Es ist März 2020. Zsuzsanna Varga steht im Obduktionssaal, vor ihr liegt ein Mensch, der den Kampf gegen das Coronavirus verloren hat. Sie weiss um die Gefahr. Die Weltgesundheitsorganisation hat den Ausbruch des Virus bereits zur Pandemie erklärt. Weisse Schutzkleidung aus dickem Stoff, Brille und Maske sollen Varga vor dem noch unbekannten Virus schützen. «Ich hatte keine Angst», sagt die Pathologin heute. «Aber ich hatte grossen Respekt davor, was ich entdecken werde.»
Varga leitet die Autopsie-Abteilung am Institut für Pathologie und Molekularpathologie des Universitätsspitals Zürich (USZ). Mehr als 30 Corona-Verstorbene hat sie seit Pandemieausbruch obduziert.
Jetzt führt Frau Varga zum Obduktionssaal im Erdgeschoss des denkmalgeschützten Gebäudes an der Zürcher Schmelzbergstrasse.
Im Obduktionssaal werden die Verstorbenen geöffnet und untersucht. Der Raum erinnert an einen gewöhnlichen Operationssaal. Zwei Tische sind mit türkisfarbenen Tüchern bedeckt, darunter guckt eine Duschbrause hervor und am Kopfteil ist ein Becken eingelassen.
Ein weiterer Tisch dient der Präsentation: Darüber hängende Kameras sollen in die Hörsäle übertragen, was nach abgeschlossener Obduktion an den Organen gezeigt wird. Darauf stehen vier Plastikboxen und zwei plastinierte Scheiben von einer Lunge und einer Leber.
Ein zusätzlicher Raum erstreckt sich hinter verglasten Wänden. An den beiden Eingängen warnen gelbe und weiss-rote Schilder vor dem Zutrittsverbot. Hier werden nur Tote mit hochansteckenden Krankheiten obduziert.
Varga steht am Vorschautisch und öffnet eine der Plastikboxen, in der ein dunkler Gegenstand in Flüssigkeit schwimmt. Sie verzieht das Gesicht und kneift die Augen zusammen. «Dieser Geruch von Formalin, er beisst und ätzt immer noch in der Nase.» Mit violetten Plastikhandschuhen hebt sie die Covid-Lunge aus dem Behälter und legt sie auf die metallene Ablage.
«Eine zerstörte Lunge», erklärt Varga. Kleine schwarze Löcher weisen auf Blutgerinnsel hin und die weissen Flächen darauf, dass die Luft fehlte. «Diese weisse Schocklunge sieht man sonst bei Patienten, die an Atemversagen sterben.»
Die Medizin-Professorin spricht schnell und in bestimmtem, aber gedämpftem Ton, nicht zu leise, gerade an der Grenze. Fachbegriffe wie Thrombogenität oder Antikoagulation scheinen bei ihr umgangssprachlich. Sie justiert nach, wenn ihr Satz Raum für Interpretationen lässt. Die grünen Augen blicken direkt und ruhig durch das Brillengestell. Als sie die Mund-Nasen-Maske für ein Foto auszieht, erscheint ein verhaltenes Lächeln.
Zu sehen, wie ein toter Mensch geöffnet wird, sei zu Beginn etwas gewöhnungsbedürftig gewesen, gesteht die 55-Jährige. Aber daran erinnere sie sich kaum mehr, immerhin liegt das über 30 Jahre zurück. Schlecht werde ihr bei der Arbeit nie. «Ich sehe nicht den Menschen, der vor mir liegt. Ich sehe das Fachliche.»
Mit ihrer Forschung konnte Varga aufzeigen, wann eine Person mit dem Virus und wann sie am Virus stirbt. Ist Covid-19 die Todesursache, sind neben der Lunge auch andere Organe stark befallen. Es ist eine Systemerkrankung, bei der das Virus mehrere Organe und Gefässe zum Erliegen bringt. Man spricht von einem Multiorganversagen.
Die wissenschaftlichen Arbeiten haben gezeigt, dass das Virus Blutgerinnsel in den Organen verursacht. Diese Erkenntnis wirkt sich grundlegend auf die Therapie von Covid-19-Patienten aus, wenn sie auf der Intensivstation liegen: Die behandelnden Ärzte geben Medikamente, die das Blut verdünnen und Gerinnsel in den Blutgefässen verhindern sollen.
Erkenntnisse wie diese brauchen Zeit. Um wissenschaftlich zu analysieren und aufzuzeigen, in welchen Fällen Covid-19 die Todesursache ist, brauchten Varga und ihr Team drei bis sechs Monate.
Dass einige Menschen die Schwere des Virus in Frage stellen, versteht Varga nicht. «Es befremdet mich», sagt sie mit weicher, fast resignierter Stimme und ergänzt etwas angespannt: «Die Studien, die wir publiziert haben, sind wissenschaftlich fundiert.»
Zum Glück habe sie keinen Kontakt mit Corona-Verharmlosern. Was sie hingegen von Freunden und Familienmitgliedern kennt, sind Klischees über ihren Beruf. Eine Arbeit im dunklen Keller, von Toten umgeben: Dieses Bild stimmt in ihren Augen nicht. Zu denken, dass die Autopsie den Hauptteil der Pathologie ausmacht, ist ein Irrtum. Die meiste Arbeit passiert im Labor.
Varga und ihr Team obduzieren zwischen null bis acht Tote pro Woche. Ein verstorbener Mensch kommt erst auf ärztliche Anweisung hin zur Autopsie. Er muss dem zu Lebzeiten selber zugestimmt haben, oder seine Angehörigen erklären sich einverstanden. Eine Ärztin schickt einen Patienten erst in die Pathologie, wenn sich klinische Fragen zur Todesursache stellen oder Unklarheiten zum Krankheitsbild wie etwa beim Coronavirus bestehen. Aussergewöhnliche Todesfälle oder ein Diagnoseirrtum beschäftigen nicht die Pathologie, sondern die Rechtsmedizin.
Die Biopsie-Station liegt im sechsten Stock des USZ-Gebäudes. In mit Tageslicht durchfluteten Laboratorien erstellen Pathologinnen und Pathologen Gewebeproben. Diese können von einem Muttermal sein, von einer Brust, Haut, eigentlich von jedem Organ oder Gewebe.
In einem ersten Schritt werden die Proben verkleinert: Hinter einer gläsernen Scheibe ist eine Frau im weissen Kittel, mit Schutzbrille und -handschuhen gerade daran, einen gelben Klumpen Gewebemasse mit einer kleinen Säge zu zerteilen.
Der Zerkleinerungsprozess geht so lange weiter, bis Gewebestückchen in Paraffin-Blöcke zwecks Konservierung eingelassen und schlussendlich mit spezieller Farbe auf Glasplatten gepresst und gefärbt werden. Sie sind dann noch zwei Mikrometer dick und können unter dem Mikroskop betrachtet werden.
Pathologinnen und Pathologen studieren im ersten Schritt Humanmedizin. Das war bei Varga nicht anders. Allerdings war ihr jetziger Beruf nicht das Ziel, ursprünglich wollte sie Psychiaterin werden. «Ich habe diesen Beruf nicht gewählt, ich bin Pathologin geworden», sagt Varga.
Während ihres Studiums in Ungarn und Tel Aviv erhielt sie einen Einblick in die Pathologie und war gefesselt. «Am Mikroskop etwas zu sehen und daraus Krankheitsbilder abzuleiten, hat mich fasziniert.»
Die Arbeit am Mikroskop ist fester Bestandteil von Vargas Arbeit. Im zweiten Stockwerk des USZ-Gebäudes hat sie ihr Büro. Als Brustpathologin untersucht sie vorwiegend Gewebeproben von der Brust. Je nach Fragestellung muss sie erkennen, wann eine Krankheit vorliegt und welche. Es sind in der Regel Gewebeproben von Lebenden.
Die Proben erhält sie auf circa drei mal sieben Zentimeter grossen Glasplättchen. Von blossem Auge betrachtet sind es abstrakte, pinke oder violette Zeichnungen. Ein Laien-Auge erkennt eine Ansammlung tausender heller und dunkler Pünktchen. Varga sieht etwas anderes: Brustkrebs.
Anhand dieser Probe kann die Pathologin bestimmen, wie aggressiv das Karzinom ist, wie schnell sich die Krebszellen teilen und ob vor der Operation eine Chemotherapie nötig ist oder nicht. Eine grosse Verantwortung: «Das, was ich und mein Team sagen, bestimmt die Therapie. Und das muss stimmen.»
Varga sitzt an ihrem Schreibtisch. Hinter ihr im Regal stapeln sich Bücher, Akten und Kartonschachteln mit Proben auf Glasplättchen. Drei Jonglierbälle sind sorgfältig, in gleichmässigem Abstand auf eine der Regal-Ablagen gelegt. «Die helfen mir, wenn ich einen vollen Kopf habe», sagt Varga. Durch das Hin- und Herwerfen kommen die rechte und linke Hirnhälfte in Balance. «Das habe ich in einem Führungskurs gelernt.»
Seit fünf Jahren leitet Varga die Autopsie-Abteilung am pathologischen Institut. Früher hätte sie in ihrer Freizeit gerne gemalt. Heute fehlt die Zeit.
Die Freude an ihrem Beruf hat sie nie verloren. Ihre Faszination dafür vergleicht sie mit der Suche nach fehlenden Informationen über eine Krankheit, bis das Puzzle gelöst ist. Immer noch in sanftem Ton, aber dezidiert, sagt sie: «Ich muss die letzte Geschichte einer Person zusammensetzen. Das ist mir wichtig.»
Danke für den Einblick!