«Du bist die erste Person in drei Jahren, die sich getraut, mich in den Arm zu nehmen», sagte ein Aids-Patient Mitte der 90-er Jahre zu Christina Grube. Ihr fehlten die Worte.
«Wenn es dich nicht gegeben hätte, dann wäre ich heute nicht mehr hier», sagte ihr ein anderer Patient vergangenen Dezember bei der Pensionierung. Ihr schossen die Tränen in die Augen.
«Ich war schon immer jemand, der Patientinnen und Patienten auch emotional unterstützte, während sie von der Gesellschaft und im Spital wie Aussätzige behandelt wurden», sagt Christina Grube im Gespräch mit watson.
27 Jahre arbeitete sie als Pflegefachfrau im Universitätsspital Zürich (USZ) in der HIV-Sprechstunde – im «Seuchenbunker», wie es zu ihren Anfangszeiten genannt wurde.
Die gesellschaftliche Stigmatisierung von Krankheiten begleitete Grube auf ihrem Werdegang wie ein dunkler Schatten. Bereits während sie 1990 in der ehemaligen Suchtbehandlung Frankental, heute «Suchtfachklinik Zürich», als Betreuerin und später als Leiterin des Drogenentzugs arbeitete.
«Die Drogensüchtigen wurden damals überall als Junkies vorverurteilt. Niemand interessierte sich für die Lebensgeschichten dahinter, welche sie dahin geführt haben», sagt Grube. Für sie sei es aber wichtig gewesen, den ganzen Menschen zu sehen: «Einige wurden suchtkrank, weil sie bereits mit 10 Jahren durch ihre Eltern an Drogen kamen. Nicht wenige waren Missbrauchsopfer, die high werden wollten, um diese Erlebnisse zu verdrängen.»
Es war eine Zeit der Extreme: Grube erlebte die Räumung der Drogenschauplätze Platzspitz und Letten aus nächster Nähe. Und sie half mit, die Suchterkrankten aufzufangen. «Wir hatten damals jedoch nur die Möglichkeit des kalten Entzugs, weshalb viele wieder abgerutscht sind, sagt Grube. Ein Mann sei in den sechs Jahren, in denen sie im Frankental arbeitete, neunmal im Entzug gewesen. Der Job zerrte zunehmend an ihren Kräften.
Regelmässig fuhr Grube mit den Suchtkranken ins Universitätsspital, wo viele wegen HIV oder Aids behandelt wurden. «Damals war das in einer Baracke im Spital-Park – die Leute nannten es Seuchenbunker oder Aids-Haus», sagt Grube. Doch auf sie habe der Ort und die Menschen sehr «familiär gewirkt». Als das USZ für die HIV-Sprechstunde eine Stelle als Pflegerin ausschrieb, habe sie sich sofort beworben – und die Zusage erhalten. Doch hätte sie damals gewusst, was sie am Anfang erwarten würde, wäre es vermutlich nie dazu gekommen.
Denn bereits in ihrem ersten Jahr im USZ seien 78 Patienten an Aids verstorben – mehrheitlich junge Männer. «Viele von ihnen starben komplett vereinsamt, weil sich ihre Familie abgewendet hatte. Schliesslich hatten sie ja die ‹Schwulenseuche›, wie sie Aids damals abwertend nannten», sagt Grube. Dabei habe sie auch oft Patientinnen gehabt. Eine 80-jährige Grossmutter beispielsweise, die HIV-positiv war nach einer Bluttransfusion aufgrund einer Operation. Oder eine schwangere Frau, deren Partner «sich anderweitig vergnügte» und dadurch Frau und Kind ansteckte. «Manchmal waren die Begegnungen heftig», sagt Grube.
Ihr seien diese «Schicksale der Ausgestossenen» sehr nahe gegangen, weshalb sie lange nicht wusste, ob sie den Job mental aushalten würde. Zudem sei der gesellschaftliche Druck gewachsen. Eine ganz neue Art von Ablehnung erlebte Christina Grube, als sie mit HIV- und Aids-Patienten arbeitete. «Die Menschen machten einen Schritt zurück oder sind mit dem Stuhl von mir weggerückt, als sie erfuhren, was ich beruflich mache. Sie hatten die irrationale Angst, ich würde sie mit HIV anstecken», erinnert sich Grube. Noch schlimmer fand sie jedoch, wie man früher im Spital mit den Aids- und HIV-Patienten umging.
«Speziell Menschen im Aids-Endstadium wurden vom Personal wie Aussätzige behandelt», sagt Grube und erklärt: «Sie haben die Kranken etwa nur mit zwei Paar Handschuhen angefasst – auch der Physiotherapeut für eine Massage.» Sie habe das nie so empfunden, weshalb sie die Patienten immer so behandelt habe, wie sie es selbst gerne hätte. «Ich zog nie Handschuhe an – auch nicht bei Blutentnahmen. Denn da muss schon viel falsch laufen, wenn man sich bei der Blutentnahme selbst sticht.»
Nicht nur medizinisch, auch persönlich war Grube für ihre Patienten da. Nicht selten ging sie mit ihnen nach dem Feierabend am See spazieren oder einen Kaffee trinken, damit sie jemanden zum Reden hätten. «Etwa 95 Prozent aller Patienten haben meine private Handynummer für Notfälle und Fragen, das wurde nie ausgenutzt», sagt sie.
Von Kolleginnen und Kollegen musste sie sich derweil anhören, psychisch und physisch mehr auf Distanz zu den Patienten gehen zu müssen. «Viele hatten Angst, irgendwie angesteckt zu werden – weil man so wenig über das Virus wusste.» Doch Christina Grube blieb sich treu, auch wenn sie oftmals die einzige war, welche sich so emotional für die Betroffenen einsetzte, während alle anderen Abstand hielten. Die Lone Rangerin der Ausgestossenen.
Dafür dankten ihr die Patienten. Wie sehr sie Grube wertgeschätzt haben, zeigt das Beispiel mit den Schweinen. «Einer meiner ersten Patienten schenkte mir ein Plüschtier-Ferkel und wünschte mir viel Schwein im neuen Job», sagt sie. Das habe sich danach wie ein Lauffeuer ausgebreitet.
In Erinnerung bleiben werde ihr ein Patient, der ihr als Dank ein lebendiges Schwein mit in die HIV-Sprechstunde ins USZ brachte. «Natürlich konnte ich «Gertrud» nicht behalten, aber ich besuchte sie von da an regelmässig auf dem Bauernhof», sagt Grube. Bis zu ihrer Pensionierung kamen von allen Patientinnen und Patienten insgesamt 3059 Schwein-Figuren zusammen. Diese stellte sie alle in ihrem Büro aus.
Von dem mit Schweinen gefüllten Spitalzimmer wusste man bis in die Direktion. «Einmal war der Spitaldirektor unterwegs zu meinem Chef. Er lief an meinem Büro vorbei, machte dann ein paar Schritte zurück, schaute einmal langsam durch den ganzen Raum und ging dann wortlos wieder», sagt Grube lachend.
Ihr Chef habe ihr danach gesagt, der Spitaldirektor habe ihn gefragt, ob sie denn auch Tiermedizin betreiben würden. Mittlerweile liegen die 3059 Schweine in ihrem Keller. «Ich bin mit dem Schweinemuseum in Stuttgart in Kontakt. Ich würde mich freuen, wenn sie dort ein neues Zuhause finden», sagt sie.
Christina Grube wurde im Dezember pensioniert. Aufhören, sich für HIV- und Aids-Betroffene einzusetzen, daran denkt sie aber nicht. Drei Tage pro Woche arbeitet sie im Checkpoint Zürich, einem Gesundheitszentrum für HIV und andere sexuell übertragbare Krankheiten. Dort ist sie auch zuständig für die Swissprepared-Studie. Das sei ein Medikament in Tablettenform und stehe für «Prä-Expositions-Prophylaxe».
«Wenn man es richtig einnimmt, schützt es HIV-negative Menschen vor einer Ansteckung mit HIV», erklärt Grube. Dass es nun ein Medikament gebe, welches präventiv vor einer HIV-Ansteckung schütze, hätte sie früher nicht gedacht. «Es ist extrem, was sich in diesem Bereich getan hat. Früher machte man erst etwas, wenn der Virus bereits im Körper war. Und diese Medikamente hatten starke, sichtbare Nebenwirkungen», sagt sie. Heute könne man den Menschen nicht mehr ansehen, ob man HIV-positiv sei – und Aids-Fälle seien sowieso sehr selten.
Doch die meisten würden den Unterschied zwischen den Krankheiten noch immer nicht kennen. «Aids ist die Folge einer unbehandelten HIV-Infektion. Wenn man HIV-positiv ist, greift der Virus das Immunsystem an. Dadurch wird es anfällig für alle möglichen Erreger, man wird krank. Das ist der Nährboden für Aids-definierte Erkrankungen», so Grube. Diese Erklärung musste sie im Laufe ihrer Karriere tausende Male liefern. Leider auch gegenüber gewissen Ärzten.
«Vergangenes Jahr rief ein Hausarzt vom Land an, er wolle dem USZ ein Patient mit Aids überweisen. Ich frage ihn, ob es dem Patienten schon so schlecht gehe. Der Arzt verneinte und meinte, sie hätten einen Aids-Test gemacht. Ich erklärte ihm, dass es keinen Aids-Test gebe, sondern nur einen HIV-Test. Das ist das Gleiche, meinte er nur», sagt Grube. Doch es ist nicht dasselbe.
Sie sei immer wieder erstaunt, dass sogar praktizierende Mediziner den Unterschied zwischen HIV und Aids nicht kennen würden – leiden würden die Betroffenen. Der erwähnte Patient sei dann ins USZ gekommen und habe zuerst aufgeklärt werden müssen. «Er dachte, er habe Aids und sei todkrank», sagt sie.
Christina Grube wird es sich deshalb auch künftig nicht verkneifen, andere über die Krankheit und die Folgen für die Betroffenen aufzuklären. Denn sie ist und bleibt die Lone Rangerin der Ausgestossenen.
Mehr solche Menschen braucht unser Land.
Ein Danke für dieses Engagement!