Brexit führte zu Rekordzuwanderung aus Indien und Afrika – was das für die Schweiz heisst
«Take back control», lautete der Slogan für den Brexit. Am 23. Juni 2016 haben knapp 52 Prozent der Britinnen und Briten für den Austritt aus der EU gestimmt. Wichtigstes Ziel: die Beendigung der Personenfreizügigkeit. Man versprach sich die souveräne Kontrolle über die Zuwanderung.
Es ist ein Versprechen, das auch in der Schweiz die Leute bewegt. Derzeit wegen der Initiative gegen eine 10-Millionen-Schweiz der SVP, auch «Nachhaltigkeitsinitiative» genannt.
Am Montag wird der Ständerat über das Volksbegehren debattieren, das in letzter Konsequenz – wie der Brexit – auf eine Kündigung der Personenfreizügigkeit hinaus läuft. Die Bevölkerung der Schweiz darf zehn Millionen bis 2050 nicht überschreiten. «Ansonsten muss der Bundesrat die bevölkerungstreibenden internationalen Verträge kündigen», heisst es auf der Website der Initiative. Take back control.
Bloss: Was bringt die Kündigung der Personenfreizügigkeit? Wie funktioniert es, wenn die Zuwanderung nicht mehr den Bedürfnissen des Arbeitsmarkts folgt, sondern vom Staat gesteuert wird?
Genau das wollte die aussenpolitische Kommission des Nationalrats wissen. Sie hat beim Staatssekretariat für Migration (SEM) im Departement von Bundesrat Beat Jans eine Auslegeordnung zur Zuwanderung ins Vereinigte Königreich nach dem Brexit bestellt. Im November lieferte das SEM ein sechsseitiges Faktenblatt mit «Hintergrundinformationen», wie es überschrieben ist.
Das SEM blickt zunächst zurück. In den Jahren vor der Brexit-Abstimmung, also vor 2016, «schwankte die Nettozuwanderung meist zwischen 200'000 und 300'000 Personen», hält es gestützt auf Daten des «Migration Observatory» der Universität Oxford fest. Bis dahin hätten EU-Bürgerinnen und EU-Bürger die Mehrheit der Einwanderung gestellt. Der Anteil reichte von 59 Prozent bis maximal 77 Prozent aller Immigranten.
EU-Bürger zeigen Briten die kalte Schulter
Doch bereits kurz nach der Abstimmung gingen die Zuwanderungszahlen zurück, lange bevor der Brexit umgesetzt und die Personenfreizügigkeit beendet wurde. Dafür seien «die Erholung der Wirtschaft in Südeuropa, der Kursverlust des Pfunds, politische Unsicherheit und die Zurückhaltung britischer Arbeitgeber gegenüber EU-Migrantinnen und Migranten verantwortlich gewesen», heisst es im Papier des SEM.
Im Januar 2021, mit dem Austritt aus der EU, führte das Königreich ein Punktesystem ein. Personen aus der EU und solche aus Drittstaaten unterliegen seither denselben Regeln. Obergrenzen für Personen aus Nicht-EU-Staaten wurden abgeschafft. «Das punktebasierte System sollte offiziell mehr ‹Kontrolle› bringen», schreibt das SEM.
Doch die Abkehr von der Personenfreizügigkeit schaffte «neue Abhängigkeiten von Migrantinnen und Migranten und Studierenden aus Nicht-EU-Ländern», und sie «schwächte die arbeitsmarktorientierte Mobilität innerhalb Europas». Mit andern Worten: Statt Angestellte einfach in Europa rekrutieren zu können, sind die britischen Unternehmen stärker auf Leute aus anderen Weltgegenden angewiesen.
Mit Nebenwirkungen: «Die Nettozuwanderung stieg in den Jahren 2022 und 2023 auf historisch hohe Werte», hält das SEM fest. Das Office for National Statistics schätze den Höchstwert 2023 auf 906'000 Personen pro Jahr. 2024 halbierte sich diese Zahl nach ersten gesetzlichen Verschärfungen zwar auf 431'000, unter anderem weil der Familiennachzug stark eingeschränkt wurde. Doch die Zahl lag «immer noch deutlich über den Werten der 2010er Jahre», schreibt das SEM.
Offenbar veränderte der Brexit die Herkunft der Einwandernden stark: 2020 sind rund 94'000 EU-Bürgerinnen und EU-Bürger mehr aus Grossbritannien weggezogen als zugezogen. So schätzte das die Organisation für Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). 2024 lag diese Zahl laut dem Migration Observatory bei minus 96'000 EU-Bürgern.
Das Ende der Personenfreizügigkeit wirkte also. Bloss an der Gesamtbilanz änderte das nichts: «Sehr grosse Zuwanderungsströme von Nicht-EU-Staatsangehörigen» hätten die Abwanderung von Personen aus der EU seit Ende der Personenfreizügigkeit «klar übertroffen».
Woher kommen die neuen Immigranten?
Fast die Hälfte der Personen aus Nicht-EU-Staaten, die zum Arbeiten einwanderten, «stammte aus Indien oder Nigeria, vor allem im Gesundheits- und Pflegesektor», heisst es im SEM-Papier. Und weiter: «Laut Migration Observatory waren 2024 Inder mit 17 Prozent die mit Abstand grösste einzelne Nationalität unter allen Zuwandernden, gefolgt von Pakistanern mit 8 Prozent und Chinesen mit 7 Prozent.»
Das Fazit des SEM: «Nach dem Brexit ist die EU-Zuwanderung deutlich zurückgegangen und die Zuwanderung aus Drittstaaten stark gestiegen, vor allem aus Asien und in Teilen aus Afrika.» Grossbritannien weise «insgesamt deutlich höhere Nettozuwanderungszahlen» aus als vor der Brexit-Abstimmung.
Derweil arbeitet die Regierung von Keir Starmer an einer weiteren Verschärfung der Migrationsgesetze. Über zehn Jahre nach dem Slogan «take back control» versucht London, die Zuwanderung immer noch in den Griff zu bekommen – wenigstens so weit wie vor dem Ende der Personenfreizügigkeit.
