Der Brexit ist die «Wunderwaffe» gegen die 10-Millionen-Initiative
In der Hitze des Gefechts kann man schon einmal die Übersicht verlieren. Vor allem wenn man wie die SVP mehrere Volksinitiativen gleichzeitig bewirtschaften muss. Der Aargauer Nationalrat Christian Glur etwa bat am Ende seines Votums am Donnerstag um Zustimmung zur «Neutralitätsinitiative». Dabei wurde die sogenannte Nachhaltigkeitsinitiative behandelt.
«Neutralität oder Nachhaltigkeit, Hauptsache gegen die EU!», könnte man in Abwandlung eines legendären Fussballer-Zitats proklamieren. Oder auf gut Schweizerdeutsch Hans was Heiri. Denn bei der SVP geht es irgendwie immer um Ausländer, Brüssel oder am besten beides zusammen. So auch bei der Volksinitiative «Keine 10-Millionen-Schweiz!».
Den Beinamen Nachhaltigkeitsinitiative erhielt sie, weil die Volkspartei ihrem Daueranliegen, dem Kampf gegen die angeblich masslose Zuwanderung, ein grünes Mäntelchen umhängen wollte. Sie reagierte damit auf die deftige Niederlage, die sie vor genau fünf Jahren mit ihrer Begrenzungsinitiative erlitten hatte, einem Frontalangriff auf die Personenfreizügigkeit.
Heuchlerisches Öko-Argument
Nun soll es das Modewort Nachhaltigkeit richten. Es ist der sprichwörtliche Wolf im Schafspelz. Oder im grünen Mäntelchen. Denn letztlich hofft die SVP nach wie vor, das ihr zutiefst verhasste Freizügigkeitsabkommen loszuwerden. Die Klagen über die zubetonierte Landschaft im Nationalrat wirkten angesichts ihrer sonstigen «Öko-Bilanz» heuchlerisch.
Die Monsterdebatte, die sich über zwei Tage erstreckte, war ein zweifelhaftes Vergnügen. 115 der 200 Ratsmitglieder hatten sich auf der Rednerliste eingetragen, darunter fast alle aus der 66-köpfigen Fraktion von SVP, EDU, MCG und Lega. Sie sprachen überwiegend vor leeren Rängen, und das war nicht etwa ein Zeichen von Respektlosigkeit.
Neoliberales Tiefsteuer-Dogma
Die Meinungen waren ganz einfach gemacht. Man sprach aneinander vorbei, oder besser gesagt für die Galerie, die reale im Saal und die virtuelle im Stream. Die Klagen der SVP über die drohende 10-Millionen-Schweiz waren nicht nur aus ökologischer Warte fragwürdig. Denn ihr neoliberales Tiefsteuer-Dogma ist ein wesentlicher Treiber der Zuwanderung.
«Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass», lässt sich ein weiteres tierisches Sprichwort zitieren. In einer alternden Gesellschaft mit tiefer Geburtenrate kann man keinen Wohlstand und keine funktionierenden Institutionen wie Spitäler haben, ohne Personal im Ausland zu rekrutieren. Da kann die SVP noch so krampfhaft versuchen, dies zu verwedeln.
Kardinalfehler der Gegner
Die negativen Auswirkungen allerdings lassen sich nicht leugnen. So ist die Zuwanderung eine wesentliche Ursache für die angespannte Lage auf dem Wohnungsmarkt. Das räumen auch die Gegner der 10-Millionen-Initiative ein, und das ist ein Fortschritt gegenüber der Debatte vor bald zwölf Jahren über die Masseneinwanderungsinitiative.
Der Kardinalfehler damals war, dass die Gegner die negativen Folgen des anhaltenden Bevölkerungswachstums entweder nicht wahrhaben wollten oder kleinredeten. Das knappe Ja des Stimmvolks war die Konsequenz. Umgesetzt wurde die Initiative nur rudimentär, weil die EU nicht einmal im Ansatz bereit war, über das Freizügigkeitsabkommen zu verhandeln.
Fünfer und Weggli
Es ist ein Dilemma, das sich kaum auflösen lässt und auch die Bevölkerung umtreibt. Das zeigt eine im Juli veröffentlichte Umfrage des Instituts Sotomo. Demnach sind nach Kenntnis aller Argumente 48 Prozent für und 46 Prozent gegen die 10-Millionen-Initiative. Gleichzeitig befürworten 56 Prozent die Personenfreizügigkeit und 58 Prozent das neue Vertragspaket der Bilateralen III.
Die Skepsis gegenüber der Zuwanderung und ihren Folgen ist somit gross, aber das Verhältnis zur EU soll nicht beschädigt, sondern vielmehr ausgebaut werden. Man will also den Pelz waschen, ohne ihn nass zu machen. Oder den Fünfer und das Weggli haben, um im hiesigen Jargon zu bleiben. Das macht den Umgang mit der Initiative zur Knacknuss.
Ausstieg der Babyboomer
Mit Pathos oder Allgemeinplätzen, die in der Nationalratsdebatte vonseiten der Gegner häufig zu hören waren, schafft man es nicht. Auch der Verweis auf die zuletzt rückläufige Zuwanderung wird im Abstimmungskampf (als Termin wird der 14. Juni 2026 gehandelt) wenig helfen, denn der Ausstieg der Babyboomer aus der Arbeitswelt ist eine Tatsache.
Der vom früheren Mitte-Präsidenten Gerhard Pfister angeregte Gegenvorschlag ist Symbolpolitik. Gefragt aber sind konkrete Massnahmen. Immer wieder wird die bessere Ausschöpfung des heimischen Arbeitskräftepotenzials beschworen. Zum Beispiel durch weniger Teilzeit und Frühpensionierungen, wie es etwa die NZZ postuliert.
Das blaue Brexit-Wunder
Solange wir uns beides leisten können, ist dies Wunschdenken. Gleiches gilt für ein höheres Rentenalter, die Dauerforderung der Bürgerlichen. Reale Abhilfe schaffen würde eine ausgebaute und günstigere Kinderbetreuung. Oder ein Verzicht auf HR-Algorithmen, die Stellenbewerbungen von Personen über 50 oder 55 automatisch aussortieren.
Dafür aber braucht es eine Mentalitätsänderung, die kurzfristig kaum erfolgen wird. Als «Wunderwaffe» gegen die 10-Millionen-Initiative bietet sich deshalb ein anderes Argument an: der Brexit. Er hat die britische Wirtschaft nachhaltig geschädigt. «Und die Zuwanderung hat zugenommen, nicht abgenommen», sagte SP-Nationalrat Fabian Molina in der Debatte.
Abwanderung in die EU
Der Ärger über die hohe Arbeitsmigration aus der EU war der Hauptgrund, warum die Briten im Juni 2016 für den Austritt gestimmt hatten. Seit dem definitiven Vollzug vor fünf Jahren ist sie nicht nur gesunken, sondern ins Minus gefallen. Aus dem Königreich sind mehr Menschen in die EU ab- als zugewandert. Dafür ist die Migration aus dem Rest der Welt explodiert.
Eigentlich müssen die Gegner der SVP-Initiative im Abstimmungskampf nur die von der BBC erstellte «Giraffenkurve» auf allen Kanälen posten, dann ist die Sache fast schon gelaufen. Sie belegt, dass Arbeitsmarkt (sogar in einer anämischen Wirtschaft wie der britischen) und Demografie die Zuwanderung antreiben, und nicht irgendwelche Verträge.