Frau Frommhold, die Corona-Schutzmassnahmen entfallen, obwohl nicht klar ist, wie fest Long Covid unser Gesundheitssystem belasten wird. Unterschätzen wir die Langzeitfolgen?
Jördis Frommhold: Die öffentliche Akzeptanz für Long Covid ist da, aber sie ist bei Weitem nicht ausreichend. Besonders die ökonomischen Folgen, die sich aus der Krankheit entwickeln dürften, werden unterschätzt.
Woher kommt die fehlende Akzeptanz?
Die Aufklärung über das Krankheitsbild hinkt hinterher. In meinen Augen wäre es sinnvoll, gross angelegte Kampagnen zu starten, wie beispielsweise bei HIV. Nicht nur, dass Ärztinnen und Ärzte entsprechend geschult werden, sondern dass unsere gesamte Gesellschaft aufgeklärt wird.
In Ihrem neuen Buch, das vorletzte Woche erschienen ist, bezeichnen Sie Long Covid als «die neue Volkskrankheit». Etwas dramatisch, finden Sie nicht?
Wenn man allein davon ausgeht, dass 10 Prozent der Ungeimpften, die sich mit Covid-19 infiziert haben, Langzeitfolgen entwickelt, sind das in Deutschland mehrere 100’000 bis Millionen Betroffene. Ich denke, das ist durchaus eine Dimension, bei der man von einer Volkskrankheit sprechen kann.
10 Prozent der infizierten Ungeimpften entwickeln Langzeitfolgen: Ist das der Anteil, von der die Forschung jetzt ausgeht?
Bei den Ungeimpften geht die Mehrheit der Studien davon aus, ja. Ist man geimpft, sinkt das Risiko um 70-80 Prozent. Das heisst, wenn sich Geimpfte mit dem Coronavirus infizieren, erkranken sie in drei bis fünf Prozent der Fälle an Long Covid. Die Studien können allerdings nicht beziffern, wie stark eine Person erkrankt.
Verursacht die Omikron-Variante mehr oder schwerwiegendere Fälle?
Das ist noch unklar. Die Langzeitfolgen tauchen meistens erst ein bis drei Monate nach der Corona-Infektion auf. Da Omikron anfangs Januar dominant wurde, kommen wir erst jetzt in den Bereich, wo wir entsprechende Patienten haben. Ich denke, im Sommer 2022 können wir mehr sagen.
Sie setzen Long Covid gleich mit Krebs oder Diabetes: Wie schätzen Sie die langfristigen gesellschaftlichen Auswirkungen ein?
Auf jeden Fall wird es ökonomische Auswirkungen haben. Am häufigsten betroffen sind jüngere Leute zwischen 20 und 50 Jahren, die vorher fit und arbeitsfähig waren. Diese Menschen fallen aus, oft nicht bloss für wenige Tage, sondern für Monate oder dauerhaft. Auch neben der Arbeitswelt stellen sich die vielfältigsten Probleme: Pflegebedürftige können beispielsweise nicht mehr zu Hause versorgt werden, wenn ihre Angehörigen Long Covid haben und selber Unterstützung brauchen. Es gibt auch Patienten, die zwar lesen können, aber den Inhalt nicht mehr verstehen. Wie sollen betroffene Eltern so ihren Kindern bei den Hausaufgaben helfen?
Bisher schlagen die Krankenkassen und Versicherungen aber noch nicht Alarm, was die Gesundheitskosten im Zusammenhang mit Long Covid betrifft. Woran liegt das?
Momentan erfassen die Krankenkassen Long-Covid-Betroffene nicht als solche. Gerade junge Patienten erhalten oft eine psychosomatische Diagnose und werden gar nicht erst als Long-Covid-Fälle gezählt. Ich glaube, wir brauchen einerseits eine bessere Codierung bei den Krankenkassen und das geht wiederum einher mit einer besseren Ausbildung der Ärztinnen und Ärzte im Bereich Long Covid.
Warum ist die Diagnose so schwierig?
Long-Covid-Patienten sind aufwändig. Sie haben viele Symptome, für die Diagnose braucht es eine Menge Ressourcen und Kapazität. Das medizinische Personal hat ja bisher nicht über zu wenig Arbeit geklagt. Als Ärztin tendiert man folglich dazu, einfach zu sagen: Das ist psychosomatisch. Aber damit wird man den Patienten nicht gerecht. Besonders schwierig wird es, wenn Long Covid eine psychosomatische Erkrankung triggert, die bereits vorher bestand. Aber wenn man einen Patienten hat, der vor der Corona-Infektion psychosomatisch völlig stabil war, finde ich es nicht gerechtfertigt, alles auf die Psychosomatik zu schieben.
Sind die Hausärztinnen und -ärzte zu nachlässig?
Als die Krankheit Long Covid aufkam, war es sicher ein Problem, dass Hausärztinnen und -ärzte die Betroffenen nicht ernst genommen hatten. Mittlerweile bessert sich das.
In Deutschland gibt es 80 Long-Covid-Ambulanzen. Wie schneidet die Schweiz in Ihren Augen bei der Versorgung von Betroffenen ab?
Da muss ich passen. Ich kann nur sagen, was man in Deutschland noch besser machen könnte.
Bitte.
Die Medizinerinnen und Mediziner könnten noch stärker zusammenarbeiten, was die Behandlung und Versorgung von Long-Covid-Betroffenen angeht. Es soll nicht sein, dass man bei jedem Patienten das Rad neu erfinden muss. Beispielsweise in Heidelberg haben sich Hausärzte zu einem tollen Netzwerk zusammengeschlossen. Das muss man fördern. Die Erfahrungen aus der Reha-Kliniken, den Hausärzten und der Forschung müssen stärker verknüpft werden. Sonst riskieren wir, dass Patienten länger als nötig arbeitsunfähig bleiben.
Sie sind selber Chefärztin der Abteilung für Atemwegserkrankungen und Allergien in einer Deutschen Rehaklinik. Konnten Sie bereits Long-Covid-Betroffene vollständig heilen?
Long Covid ist bis jetzt eine unheilbare chronische Erkrankung. Aber wir haben durchaus die Möglichkeiten, die Beschwerden zu lindern und die Person zu stabilisieren.
Die Betroffenen müssen sich häufig selber zu helfen wissen. Die eine anerkannte Therapie gibt es nicht.
Ja, und da müssen wir extrem aufpassen. Die Patienten sind sehr verzweifelt und wenn man ihnen sagen würde, «iss getrocknete Skorpione, das hilft», dann würden sie das tun. Da müssen wir extrem aufpassen, dass keine Schindluder mit den Betroffenen getrieben wird.
Denken Sie dabei an die Blutwäsche?
Ich halte es für wichtig und richtig, dass man auch diese Therapie ausprobiert und weiterverfolgt. Wir können es uns nicht leisten, eine Möglichkeit unbeachtet zu lassen. Aber wir müssen das Ganze in wissenschaftlichen Studien einbetten. Eine Blutwäsche ist teuer, die Krankenkasse bezahlt sie nicht und von medizinischer Seite her können wir keinen Erfolg garantieren. Das muss man klar so kommunizieren. Auch ich versuche momentan in experimentellen Verfahren, den Patienten zu helfen. Bei den einen nützt ein Medikament oder eine Therapie, bei anderen wieder nicht. Es gibt bisher keine kausale Erklärung. Es ist eine Suche nach der Nadel im Heuhaufen.
Was empfehlen Sie den Patienten? Warten, bis die Forschung irgendwann fündig wird?
Ich kann verstehen, dass man die Sache selber in die Hand nehmen will und dabei bereit ist, das Geld für Therapien aufzubringen. Aber man muss einfach ehrlich sein. Weder kann der Erfolg garantiert werden, noch, wie lange die Wirkung anhält. Wer neue Therapien zur Behandlung von Long Covid ausprobieren möchte, kann sich informieren, wo Studien dazu laufen und sich da einschliessen.
Ist es eigentlich möglich, bereits während der Akutphase einer Corona-Infektion den Langzeitfolgen vorzubeugen?
Da kann ich aus eigener Erfahrung berichten. Ich hatte einen Impfdurchbruch und mich Ende Januar bei meinem 11-jährigen Sohn angesteckt. Obwohl ich einen leichten Verlauf hatte, konnte ich bei mir beobachten, was ich von meinen Patienten kannte. Man neigt während der Akutphase dazu, flach und oberflächlich zu atmen. Diese Schonatmung kann möglicherweise zu Problemen führen, die wir von Long-Covid-Betroffenen kennen, wie Schmerzen im Brustkorb oder Kurzatmigkeit. Mit einfachen Übungen lässt sich dem vorbeugen. Ausserdem beobachten wir, dass unsere Patienten einen sehr hohen Leistungsanspruch haben. Wir tendieren dazu, nach einer Krankheit gleich wieder mit 120 Prozent ins Berufsleben einzusteigen. Aber nur weil der Corona-Test negativ ist, heisst das nicht, dass alle Körperfunktionen intakt sind. Man sollte da wirklich auf die eigenen Grenzen achten und nicht gleich mit Vollgas einsteigen, damit man nicht in diese Überforderungstendenz kommt.
Diese Übungen, die sie erwähnt haben: Wie sehen die aus?
Es gibt zum Beispiel den Kutschersitz, mit dem man den Brustkorb entlastet, oder die Lippenbremse. Dabei ist besonders wichtig, dass man länger ausatmet als ein, also vier Schläge durch die Nase einatmen, kurze Pause und sieben Schläge durch die leicht geöffneten Lippen wieder ausatmen. Das wiederholt man elfmal. Es ist eine kleine Übung, aber sie beruhigt und ist wichtig, um die Luft komplett aus den Lungen zu bringen und das ganze Volumen für neue Luft zur Verfügung zu haben.
ME/CFS ist viel älter, offiziell von der WHO mit Numerierung anerkannt, wirklich unheilbar mit über 40% der Betroffenen die nur noch bettlägerig sind. Der Rest kann, wenn man Glück hat, noch teilweise teilzeit arbeiten oder ist hausgebunden wegen totaler Erschöpfung, Schmerzen,usw.