Demokratie in Gefahr – diese Grafiken zeigen, wie Autokratien auf dem Vormarsch sind
Wir leben in unruhigen Zeiten: Finanzkrise, Terrorismus, Klimawandel, Migrationskrise, Corona, nun der Krieg in der Ukraine – die Welt kommt im 21. Jahrhundert kaum mehr zur Ruhe. Solche Krisenzeiten und der damit verbundene gesellschaftliche Wandel sind stets auch ein Stresstest für die Demokratie. Die Menschen sehnen sich nach einfachen Antworten auf komplexe Fragen und diese kann die Demokratie schlicht nicht liefern.
So erlebt die Welt derzeit eine Welle der Autokratisierung, wie das «Varieties of Democracy»-Projekt (V-Dem) der Universität Göteborg in seinem neusten Report anmerkt. 42 Staaten bewegten sich demnach im Jahr 2022 in Richtung Autokratie, also der unkontrollierten Machtausübung einer einzelnen Person oder Personengruppe. Im Gegensatz dazu zeigten nur 13 Staaten demokratisierende Tendenzen. Der demokratische «Aufbruch» in den 1990er-Jahren ist beinahe komplett verpufft.
Alle Regionen der Welt sind von der Autokratisierung betroffen – auch Europa. Vor allem in Griechenland, Ungarn, Polen und Serbien erlebte die Demokratie in den letzten Jahren eine bedenkliche Erosion. Medienfreiheit, freie Wahlen und die Unabhängigkeit der Justiz werden eingeschränkt, während gegen aussen eine demokratische Fassade aufrechterhalten wird.
Autokratisierende Staaten (42)
- Afrika: Benin, Botswana, Burkina Faso, Burundi, Tschad, Komoren, Ghana, Elfenbeinküste, Mali, Mauritius, Mosambik, Uganda
- Asien und Ozeanien: Afghanistan, Bangladesch, Kambodscha, Hongkong, Indien, Indonesien, Myanmar, Philippinen, Thailand
- Westeuropa und Nordamerika: Griechenland, USA
- Lateinamerika: Brasilien, Chile, El Salvador, Guatemala, Haiti, Nicaragua, Uruguay, Venezuela
- Osteuropa und Zentralasien: Belarus, Ungarn, Kirgisistan, Mongolei, Polen, Russland, Serbien
- Mittlerer Osten und Nordafrika: Libyen, Tunesien, Türkei, Jemen
Demokratisierende Staaten (14)
- Afrika: Madagaskar, Malawi, Seychellen, Sierra Leone, Gambia
- Asien und Ozeanien: Fidschi, Malaysia, Nepal, Sri Lanka
- Westeuropa und Nordamerika: –
- Lateinamerika: Dominikanische Republik, Ecuador, Honduras
- Osteuropa und Zentralasien: Armenien, Georgien
- Mittlerer Osten und Nordafrika: –
Dem V-Dem-Report zugrunde liegt der «Liberal Democracy Index» (LDI), der anhand von Hunderten von Indikatoren den Demokratie-Status eines Landes berechnet. Mit einem LDI von 0.851 liegt die Schweiz weltweit gesehen auf Rang 4. Vor ihr befinden sich mit Dänemark, Schweden und Norwegen nur drei skandinavische Staaten. Den tiefsten LDI verzeichnen Afghanistan (0.280), Eritrea (0.012) und Nordkorea (0.010).
Der LDI gibt jedoch nur den Demokratie-Status eines Landes an, nicht aber, unter welcher Herrschaft die Bewohner eines Landes wirklich leben. Dafür benützt «V-Dem» den «Regimes of the World»-Indikator (RoW), mit denen Staaten vier Herrschaftsformen zugeteilt werden: Liberale Demokratie, Wahldemokratie, Wahlautokratie und geschlossene Autokratie (siehe Infobox).
Wahlautokratie: Mehrparteien-Wahlen für die Exekutive existieren; ungenügende Präsenz von fundamentalen Demokratie-Kriterien wie freie Meinungsäusserung, Versammlungsfreiheit und freie sowie faire Wahlen.
Wahldemokratie: Mehrparteien-Wahlen für die Exekutive sind frei sowie fair; zufriedenstellende Situation bezüglich Wahlrecht, Meinungsäusserung und Versammlungsfreiheit.
Liberale Demokratie: Anforderungen an Wahldemokratie sind erfüllt; judikative und legislative Beschränkungen für die Exekutive; Schutz der Freiheitsrechte und Gleichheit vor dem Gesetz.
Auch hier ist der Trend zur Autokratisierung klar ersichtlich. So gab es Ende 2022 erstmals seit 1995 wieder mehr geschlossene Autokratien als liberale Demokratien (33:32) auf der Welt. Weil unter anderem Indien und Nigeria nicht mehr als Wahldemokratie, sondern neu als Wahlautokratie eingestuft werden, leben aktuell 72 Prozent der Weltbevölkerung – insgesamt 5,7 Milliarden Menschen – unter einer autokratischen Regierung. Vor zehn Jahren waren es noch 46 Prozent.
Die Gründe für die steigende Autokratisierung sind vielfältig: unerfüllte Wohlstandsversprechen, Überforderung im Umgang mit Krisen, scharfe Polarisierung als Folge von gesellschaftlichen Umbrüchen, zersplitterte Parteienlandschaften. Sie tragen zur Politikverdrossenheit in demokratischen Ländern bei und sorgen dafür, dass Extremparteien Zulauf erhalten.
Es gibt aber auch positive Beispiele: Die USA sind nach der Abwahl von Donald Trump unter Joe Biden wieder im demokratischen Aufwind. Brasilien gehörte unter Jair Bolsonaro jahrelang zu denjenigen Staaten, die sich am schnellsten in Richtung Autokratie bewegten. Mit der Wahl von Lula da Silva scheint dieser Trend zumindest gestoppt. Auch in Staaten wie Malaysia, Honduras, Sri Lanka oder Ecuador gibt es erfreuliche Tendenzen. Und trotz aller Krisen sind in Westeuropa die Demokratien bislang stabil geblieben.
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