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Auch wenn es auf unserem Kontinent seit 1970 schon über fünfzig Europa-Abstimmungen gab, eine Abstimmung über einen EU-Austritt mit all seinen Konsequenzen findet indes nicht alle Tage statt, entsprechend akribisch wird im Vorfeld der Abstimmung die öffentliche Meinung vermessen.
Seit September 2015 jagt sich im Vereinigten Königreich eine Meinungsumfrage nach der anderen – Pollsters sind gerade Könige im Lande der Queen. Die Zahl der Brexit-Umfragen ist derart hoch, dass sich etwa die «Financial Times» den Luxus leisten kann, mehrere Telefon- und Online-Umfragen übereinanderzulegen, um eine verlässlichere Schätzung der Stimmabsichten zu erhalten (siehe Abbildung unten).
Die Umfrageaggregation der «Financial Times» («poll of polls») zeigt, dass die Stimmung in den letzten zwei Wochen vom Nay zum Aye übergegangen ist, um nach dem Mord an der Abgeordneten Jo Cox wieder knapp ins Aye zu kippen. Dieser Meinungsbildungsverlauf zugunsten eines «Leave» erstaunt viele britische, aber auch ausländische Beobachter. Erwartet wurde gemeinhin, dass am Ende die Status-Quo-Befürworter zulegen würden. Denn die Unentschiedenen, so die Argumentation, würden im Zweifelsfalle für den Verbleib stimmen.
Ist dieser Meinungsbildungsverlauf wirklich derart ungewöhnlich? Nicht, wenn man die Situation mit derjenigen vor Schweizer Europa-Abstimmungen vergleicht. Und das kann man, denn mit europapolitischen Abstimmungskämpfen, öffentlicher Meinungsbildung bei polarisierenden Themen und unentschlossenen Wählern bei knappen Ergebnissen sind wir bestens vertraut.
Wir mögen die Fussballeuropameisterschaft noch nie gewonnen haben, aber was Referenden auf nationaler Ebene anbelangt, sind wir unangefochtene Weltmeister. Deshalb lässt sich am Beispiel unserer Europa-Abstimmungen gut illustrieren, was sich bezüglich Meinungsbildung in den letzten paar Tagen auf der Insel abspielt.
Für diesen Vergleich haben wir alle Schweizer Europa-Abstimmungen der letzten 25 Jahre herangezogen. Indes, nicht jede dieser Abstimmungen eignet sich für eine Gegenüberstellung mit dem Brexit-Referendum gleich gut. Die Abstimmung über die Bilateralen I (2000) beispielsweise hatte keinen Austritts-, sondern Eintrittscharakter: Das Schweizer Stimmvolk befand damals nicht über einen «Schwexit», sondern vielmehr darüber, ob es ein bilaterales Vertragsverhältnis mit der EU eingehen möchte.
Die Referenden über die Ausdehnung der Personenfreizügigkeit (2005 und 2009), zum Osthilfegesetz (2006) und zu Schengen/Dublin (2005) wiederum hatten Austrittscharakter: Denn ein Nein zu diesen Vorlagen hätte jeweils das Ende des bilateralen Wegs bedeutet oder diesen zumindest in Frage gestellt.
Aber bei diesen Referenden widersprachen sich die formale Status quo-Logik («Wer für den Status quo ist, stimmt Nein») und die inhaltliche Status quo-Logik («Wer für den europapolitischen Status quo ist, stimmt Ja»). Für risikoscheue Stimmende war die Entscheidsituation deshalb komplizierter als sie es jetzt beim Brexit-Referendum ist.
Beim Brexit-Referendum ist es einfacher. Wer mit der gegenwärtigen britischen Europapolitik unzufrieden ist, votiert für den Austritt («leave»), wer alles beim Alten belassen möchte, stimmt für den Verbleib («remain»). Eine vergleichbare Schweizer Abstimmungssituation lag unseres Erachtens am ehesten bei der Abstimmung über die Masseneinwanderungsinitiative (2014) vor.
Sie hatte Austrittscharakter und die Stimmbürger waren sich dessen – wie Studien zeigen – durchaus bewusst. Auch handelte es sich hierbei um eine Abstimmung, bei der beide Abstimmungslager einen ressourcenreichen und intensiven Abstimmungskampf führten.
Wie stimmen Unentschlossene, Ambivalente und Spätentscheider bei europapolitischen Abstimmungen? Zunächst zur Theorie: Aus der Abstimmungsforschung lassen sich zwei gegensätzliche Szenarien herleiten. Die eine «Schule» postuliert eine sukzessive Verlagerung der Stimmabsichten zum Status quo, je näher der Abstimmungstag rückt. Dies liegt vorderhand an der Risikoaversion, welche diese «Schule» dem Menschen grundsätzlich unterstellt. Diese Risikoaversion wirkt umso stärker auf das Verhalten, je unsicherer und uninformierter der oder die einzelne ist. Und Spätentscheider sind häufig ambivalent. Genau wegen dieser ambivalenten Haltung warten sie mit ihrer Stimmabgabe zu und legen sich erst im letzten Moment fest. Trifft diese Annahme zu, ist bei europapolitischen Abstimmungen ein Trend zum Status quo zu erwarten.
Auf der anderen Seite weiss man, dass die Bereitschaft, seine Meinung bei Umfragen kundzutun, vom wahrgenommenen Meinungsklima abhängig ist («soziale Erwünschtheit»). Wer sich zur vermeintlichen Minderheit zählt, äussert seine Haltung ungern. Er möchte nicht sich nicht als abweichend outen. Wenn man sich wegen seiner eigenen Meinung jedoch nicht stigmatisiert fühlen muss und plötzlich (viele) Gleichgesinnte um sich findet, äussert man die eigene Meinung umso befreiter und beeinflusst so – allenfalls noch durch Umfragen verstärkt – wiederum andere.
Eine «Schweigespirale», die anfänglich noch eine eigentliche Mehrheitsmeinung zu «unterdrücken» imstande ist, wird so während des Abstimmungskampfes durchbrochen. Voraussetzung dafür ist ein intensiver Abstimmungskampf, vor allem von Seiten jenes Lagers, das die vermeintliche Minderheitenposition einnimmt. Trifft diese Annahme zu, ist mit fortlaufendem Abstimmungskampf ein Erstarken der «Minderheitenposition» zu erwarten.
Wie verläuft nun die «durchschnittliche» Meinungsbildung bei europapolitischen Abstimmungen in der Schweiz und wie verlief sie insbesondere beim Vergleichsfall der MEI? Zu diesem Zweck haben wir die VOX-Nachbefragungsdaten analysiert und das Stimmverhalten nach Entscheidungszeitpunkt und Entscheidungsschwierigkeit ermittelt. Wie wir dabei im Detail vorgegangen sind, ist der Methodenbox (siehe unten) zu entnehmen.
Zunächst ist festzuhalten, dass der Anteil der Spätentschlossenen bei Schweizer Europaabstimmungen etwa ähnlich hoch ist wie bei den Brexit-Polls: Eine Woche vor dem Stichtag beträgt er im Schnitt rund zehn Prozent. Dieser Anteil ist im Vergleich zu anderen Abstimmungsthemen tief. Das liegt daran, dass die Europapolitik ein oftmals wiederkehrendes und somit vertrautes Schweizer Abstimmungsthema ist.
Der Anteil der von Beginn weg Entschlossenen variierte zwischen den verschiedenen Urnengängen hingegen stärker. Auffallend ist dabei, dass ihr Anteil bei der Jahrhundertabstimmung über den EWR (1992) noch vergleichsweise tief lag, sodann auf rund 60 Prozent anstieg, um in jüngster Zeit wieder auf ein tieferes Niveau zu fallen. Diese Zahlen belegen, dass der bilaterale Weg in der Bevölkerung noch vor zehn Jahren wenig umstritten war, sich die Zweifel daran aber in jüngerer Vergangenheit gemehrt haben.
Ausserdem weisen diese Werte auf ein gewachsenes Überzeugungspotential von Kampagnen hin. Denn der Anteil derer, die von sich sagen, sie seien von Beginn weg fest entschlossen gewesen (und somit «immun» gegenüber jedwelchen Kampagnen) hat in den letzten fünf Jahren erheblich abgenommen. Der vorliegende Befund belegt eindrücklich, dass Spätentscheidende in der Tat weitaus grössere Mühe bekunden, sich zu einem Votum durchzuringen, als Frühentschlossene.
Die Entwicklung der Stimmabsichten bei Europa-Abstimmungen in der Schweiz deckt sich zudem oft mit dem durch Umfragen erhobenen Brexit-Meinungsbildungsverlauf: Es sind nicht die Befürworter des europapolitischen Status quo, die am Ende zulegten, sondern vielmehr die Europagegner. Besonders deutlich ist dies beim eigentlichen Paradebeispiel MEI. Im Verlauf des Abstimmungskampfes legten die Initiativbefürworter zu und nicht etwa die Gegner.
Aber auch bei den Referenden zu Schengen/Dublin und zur Ausdehnung der Personenfreizügigkeit (PFZ) 2009 ist ein vergleichbares Muster zu entdecken. Beim Osthilfegesetz, der PFZ 2005 und den Bilateralen ist dieses Muster hingegen kaum zu erkennen. Aber bei diesen drei Abstimmungen investierte die SVP im Vergleich zu ihren Kontrahenten vergleichsweise geringe Mittel in den Abstimmungskampf. Um eine Schweigespirale zu durchbrechen, ist aber ein intensiver Abstimmungskampf notwendig.
Generell können wir also sagen, dass bei europapolitischen Abstimmungen in der Schweiz die Theorie der Schweigespirale, beziehungsweise der Umstand, dass sie durch die lauten und intensiven Kampagnen im späteren Abstimmungsverlauf durchbrochen wird, eher zur Empirie passt als das Modell des Status Quo-Vorteils bei Unentschlossenen. Bezeichnend ist aber auch, dass sich die Stimmabsichten bei allen europapolitischen Abstimmungen nie dramatisch änderten. Auch dies kommt wenig überraschend. Bei solchen Abstimmungen geht es um derart fundamentale politische Überzeugungen, dass Meinungsänderungen «über Nacht» höchst unwahrscheinlich sind.
Was aber ist – im Sinne eines Fazits – aufgrund des bisherigen Meinungsbildungsverlaufs für die heutige Abstimmung zu erwarten? Sagen wir es mal so: Wären es Schweizer, die über den Brexit befinden, so wäre aufgrund des bisherigen Verlaufes der Stimmabsichten eher ein «Leave» zu erwarten als ein «Remain».