Der Tod von Alexej Nawalny, dem bekanntesten und charismatischsten Gegner des Putin-Regimes, kam nicht überraschend. Und war doch ein Schock, auch für Ehefrau Julia. Sie erfuhr davon am 16. Februar wie die meisten Menschen aus den Medien, am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz, erzählte sie am Freitag an der Universität St.Gallen.
Julia Nawalnaja war der Star- und Abschlussgast am St.Gallen Symposium, einem Event mit illustren Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, der von den Studierenden organisiert wird. Seit ihr Mann in der sibirischen Lagerhaft starb oder nach Ansicht auch der Witwe umgebracht wurde, versucht sie, sein Werk fortzusetzen.
Begonnen hatte sie in München. Noch am selben Tag hielt sie eine emotionale Rede. «Mein Mann hat mich gelehrt, dass man die richtigen Entscheidungen treffen muss. Und in jenem Moment war es das Richtige», sagte sie auf die Frage des Moderators Ali Aslan, warum sie den Auftritt an der Sicherheitskonferenz trotz der Todesnachricht durchgezogen habe.
Sie machte kein Geheimnis daraus, dass ihre Beziehung zu Alexej mehr war als eine von Mann und Frau: «Wir waren ein verschworenes Team.» Die Ökonomin und der Jurist hatten sich 1998 während Ferien in der Türkei kennengelernt. Zwar hielt sich Julia häufig im Hintergrund, doch bei Kundgebungen oder vor Gericht war sie immer an seiner Seite.
Nun muss sie alleine weitermachen. In ihrer Ansprache auf Englisch ging Julia Nawalnaja auf den wichtigsten Unterschied zwischen Wladimir Putin und ihrem Mann ein. «Der Diktator Putin will die jungen Menschen in Russland daran hindern, sich in der Politik zu engagieren. Wenn sie es doch wagen, lässt er sie einsperren oder sogar töten.»
Alexej Nawalny habe das Gegenteil angestrebt. Die Jungen sollten an der Politik teilnehmen. «Putin hatte Angst davor. Deshalb liess er Nawalny im Fernsehen beschuldigen, er würde die Jungen zur Politik verleiten. Für ihn war das ein schlimmes Verbrechen.» Putin wolle nicht, dass Menschen sein korruptes System stören und Fragen stellen.
Der politische Prozess in Russland sei in den letzten 25 Jahren zerstört worden, sagte Julia Nawalnaja. «Das Putin-Regime redete den Menschen ein, Politik sei ein schmutziges Geschäft, mit dem die jungen Leute nichts zu tun haben sollten.» Wer es doch tue, werde beschuldigt, für den Westen zu arbeiten. Damit würden die Jungen eingeschüchtert.
Sie wolle «die grossartige Arbeit» ihres Mannes fortsetzen und die Menschen motivieren, ihre Stimme zu erheben, sagte Nawalnaja im Gespräch mit Moderator Aslan. Und gab sogleich zu, dass dies «eine komplizierte Angelegenheit» sei. «Es gibt viele Menschen, die gegen Putin sind, doch wenn sie dies in Russland offen aussprechen, werden sie eingesperrt.»
Indirekt gab die 47-Jährige damit zu, dass die Aufgabe schwierig und in der heutigen Zeit vielleicht unmöglich ist. Sie kenne andere im Westen lebende Oppositionelle wie Garri Kasparow oder Michail Chodorkowski, sagte sie. Für einen gemeinsamen Kampf gegen Putin sei sie offen. Doch ihr war anzumerken, dass sie die Erfolgschancen bezweifelt.
Alexej Nawalny jedenfalls war überzeugt, dass er als Regimegegner im Exil wenig bewirken könne. Deshalb bestieg er nach der Genesung von seiner Nowitschok-Vergiftung im Januar 2021 im Bewusstsein der Gefahr ein Flugzeug nach Moskau, in Begleitung von Julia. Nach der Landung wurde er augenblicklich verhaftet und für den Rest seines Lebens eingesperrt.
Ob ihr Mann im Rückblick anders gehandelt hätte? Ali Aslan stellte diese Frage nicht, und vielleicht hätte die Witwe sie nicht beantworten können. Ein Indiz aber gab sie: «Mein Mann hat gesagt, wenn man kämpft, muss man immer weiterkämpfen.» Alexej Nawalny tat dies bis zum bitteren Ende, und nun muss Julia die «grosse Verantwortung» tragen.
Der an die Befolgung von Gesetzen gewohnte Westen habe Mühe, Wladimir Putin zu verstehen. «Er ist der Präsident, aber er ist kein Politiker, sondern ein Mafiaboss. Er ist korrupt und beginnt Kriege.» Der Krieg in der Ukraine müsse sofort aufhören und Putin angeklagt werden, meinte Nawalnaja und räumte ein: «Es gibt keine einfache Lösung.»
Der Krieg ist ein heikles Thema. Obwohl Alexej Nawalny selbst ukrainischer Abstammung war, hat er im von Putin angegriffenen Nachbarland keinen guten Ruf. Das zeigte ein kurzes Gespräch am Rande des Symposiums mit Lisa Yasko, einer Abgeordneten der Selenskyj-Partei im Kiewer Parlament, mit der watson an gleicher Stelle vor zwei Jahren ein Interview geführt hatte.
Es tue ihr leid, dass Nawalny tot sei, meinte Yasko, doch ihr Urteil bleibt knallhart: «Er war ein russischer Imperialist!» Tatsächlich hatte Nawalny mit Nationalisten paktiert und die Annexion der Krim 2014 unterstützt, was man ihm besonders übel nimmt. Später aber sprach er sich für ein neues Referendum aus, und den Angriffskrieg verurteilte er scharf.
Alexej Nawalny war eine schillernde Figur, in mancher Hinsicht. Bezüglich Charisma konnte ihm allenfalls Boris Nemzow das Wasser reichen, doch der wurde schon vor Jahren ermordet. Ob Witwe Julia sein schweres Erbe antreten kann, bleibt abzuwarten. Sie ist eine beeindruckende Frau, doch sie verfügt weder über seine Ausstrahlung noch seine Eloquenz.
Immerhin liess sie bisweilen jenen Sinn für Humor aufblitzen, der vielleicht Alexej Nawalnys grösste Stärke war. Noch mit dem Tod vor Augen machte er Witze über seine Peiniger und sich selbst. Putin-Gegner leben gefährlich, doch auf die Frage nach ihrer Sicherheit meinte die Mutter einer Tochter und eines Sohnes: «Ich denke nicht zu viel darüber nach.»
Ihr Auftritt in der Aula der Uni St.Gallen in einem schlichten Hosenanzug mit High Heels und streng nach hinten frisiertem blonden Haar jedenfalls hat das Publikum mehr als überzeugt. Es bereitete ihr am Ende eine lautstarke Standing Ovation.
Es wäre eine Wohltat aus Russland eine wirkliche Abkehr vom Nationalismus erkennen zu können.
Ohne diese Abkehr wird eine Navalnaia keine sinnstiftende Entwicklung in Russland anstossen können. Gegen Putin zu sein ist sicherlich ein Anfang aber kaum die Hälfte der Miete.
Deshalb darf sich nur der Schmutzigste von allen Russen mit Politik befassen: Putin himself.