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Interview

Antisemitismus-Bericht zeigt Rekordwert in der Schweiz

Ralph Friedländer, Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds
«Ein Warnzeichen für unsere freiheitlich-demokratische Gesellschaft»: Ralph Friedländer, Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds, über den angestiegenen Antisemitismus.Bild: CH Media / Andrea Zahler
Interview

«Die Schleusen wurden geöffnet»: Antisemitismus in der Schweiz auf Rekordniveau

Die Judenfeindlichkeit in der Schweiz ist seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel im Oktober 2023 deutlich angestiegen. Der Trend scheint unumkehrbar. Ralph Friedländer vom Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund über Angst, Israelkritik und die Grenzen der Meinungsfreiheit.
18.03.2025, 09:5820.03.2025, 13:26
Christoph Bernet / ch media
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Anfang März empfängt uns Ralph Friedländer im Büro des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG) im Zürcher Enge-Quartier zum Gespräch. Der Präsident des Dachverbands der jüdischen Gemeinden trägt am Revers seines Anzugs eine gelbe Schleife. Sie erinnert an die israelischen Geiseln, die weiterhin in der Gewalt der Hamas im Gaza-Streifen sind.

Vor ziemlich genau einem Jahr hat wenige hundert Meter von hier ein vom IS inspirierter Jugendlicher einen orthodoxen Juden mit einem Messer angegriffen. Wie gross ist die Angst innerhalb der jüdischen Gemeinschaft in der Schweiz heute?
Ralph Friedländer: Diese Messerattacke war erschütternd, das war ein Angriff von bislang ungekanntem Ausmass. Hätten nicht Passanten eingegriffen, wäre der Mann wahrscheinlich gestorben. Er leidet noch heute unter den Folgen des Angriffs. Das ist traurig. Aber das war nicht das einzige Ereignis im letzten Jahr.

Was kam noch dazu?
Es gab einen versuchten Brandanschlag auf eine Synagoge, es gab Tätlichkeiten, Beschimpfungen. Das alles hat zu einem Klima geführt, das viele Mitglieder unserer Gemeinschaft verängstigt. Es gibt einige, welche die äusseren Zeichen ihres Jüdischseins – die Kippa, den Davidstern – verstecken. Manche bitten unsere Gemeinden, ihnen Post von jüdischen Institutionen nur noch in neutralen Couverts zuzusenden. Das darf nicht zur Normalität werden. Diese Situation ist tragisch. Es besteht Handlungsbedarf.

In früheren Jahren wirkten einzelne Ereignisse als Trigger, die einen temporären Anstieg von antisemitischen Vorfällen auslösten. Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel vor achtzehn Monaten hat sich der Antisemitismus in der Schweiz jedoch auf einem bislang ungekannt hohen Niveau verfestigt. Ist er gekommen, um zu bleiben?
Es gab tatsächlich einen Dammbruch. Die Schleusen sind geöffnet worden. Es wird schwierig sein, dieses Niveau wieder herunterzubringen. Aber das darf nicht so bleiben. Wir wollen das mit der Politik zusammen angehen.

Welche Tendenzen im neuen Antisemitismus-Bericht machen Ihnen am meisten Sorgen?
Persönlich finde ich die Entwicklung bei den Tätlichkeiten erschütternd. Nach zehn Tätlichkeiten im Jahr 2023 waren es letztes Jahr elf Tätlichkeiten. Davor waren solche Fälle in der Schweiz jahrzehntelang äusserst selten. Aber auch die rasante Zunahme der antisemitischen Vorfälle in der Online-Welt beunruhigt mich. Ich bin selbst in den sozialen Medien unterwegs und sehe diese Lawine an antisemitischen Posts. Das schafft ein ungutes Klima und kann wiederum zu einem Auslöser von neuen antisemitischen Vorfällen werden.

Bei Vorfällen, die offline in der realen Welt stattgefunden haben, konstatiert der Bericht einen «leichten Überhang beim radikal propalästinensischen Lager, in dem sich linke und muslimische Milieus treffen». Ist der neue Antisemitismus seit dem 7. Oktober woke-studentisch?
Antisemitismus kommt weiterhin aus verschiedenen Milieus, und das zu etwa gleichen Teilen. Er existiert bei Links- und Rechtsextremen, Verschwörungstheoretikern, Islamisten, in der Mitte der Gesellschaft und eben auch im radikal propalästinensischen Lager. Wir wollen diese Form des Antisemitismus weder besonders hervorheben noch ignorieren. Aber natürlich beobachten wir gewisse problematische Entwicklungen, gerade auch an den Universitäten. Das habe ich aus nächster Nähe erfahren.

Worauf spielen Sie an?
Im Dezember wurde ein Referat von mir an der Universität Zürich zum Thema Israelkritik und Antisemitismus von vermutlich teilweise aus dem Ausland angereisten Aktivisten gestört und mehrfach unterbrochen. Ich nehme diese Szene als gut organisierte, laute Minderheit wahr, weniger als gesellschaftliche Bewegung.

Wie wirkt sich das auf jüdische Studierende und Dozierende an Schweizer Hochschulen aus?
Vor allem in der Westschweiz sind viele jüdische Studierende verunsichert und empfanden insbesondere während der Uni-Besetzungen im letzten Frühjahr ein Klima der Angst. Wir haben das Gespräch mit einigen Universitäten geführt und werden auch auf die Schweizer Hochschulkonferenz zugehen. Aktuell hat sich die Lage glücklicherweise etwas beruhigt. Wir erwarten, dass die Universitäten auf künftige Vorfälle rascher reagieren.

Zur Person

Ralph Friedländer
Der 65-jährige Psychologe ist seit Juni 2024 Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds (SIG). Kurz davor wurde er nach einer über 30-jährigen Laufbahn als Diplomat und Beamter im Dienste des Bundes pensioniert. Seit 2020 amtete Friedländer als Vizepräsident des SIG und war zuvor Präsident der Jüdischen Gemeinde Bern.

Von den 500 beim SIG eingegangenen Meldungen wurden am Ende nur 170 als eindeutige antisemitische Vorfälle erfasst. Ist die jüdische Gemeinschaft in der Schweiz überempfindlich und sieht hinter jedem kritischen Wort zu Israel Antisemitismus?
Von einer Überempfindlichkeit kann keine Rede sein. Wir orientieren uns an der Antisemitismusdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) und wenden diese sehr streng an. Zweideutige Vorfälle klassieren wir im Zweifelsfall als nicht antisemitisch. Obwohl die jüdische Gemeinschaft in der Schweiz nicht für die Politik Israels verantwortlich ist, erlebt sie tagtäglich die Vermengung zwischen den Juden und Israel. In mancher Kritik an Israel schwingt Antisemitismus mit. Und manchmal wird das zwar so empfunden, erfüllt jedoch die IHRA-Definition nicht.

Gelingt die Gratwanderung, gegen Antisemitismus vorzugehen und gleichzeitig berechtigte Kritik an Israel im Sinne der Meinungsäusserungsfreiheit zuzulassen?
Wir setzen uns stark für eine möglichst grosse Meinungsäusserungsfreiheit ein. Das ist unser Leitsatz. Aber es gibt Grenzen: Wer zur Tötung von Juden oder zur Auslöschung des Staats Israel aufruft, dessen Äusserungen sind nicht von der Meinungsäusserungsfreiheit gedeckt.

Stichwort Meinungsäusserungsfreiheit: Seit Herbst 2023 arbeitet der Bundesrat an einer Vorlage zur Regulierung von Plattformen wie X oder Facebook. Würden Sie strengere Regeln begrüssen?
Die Meinungsäusserungsfreiheit hat dort Grenzen, wo man zu Mord und Totschlag aufruft oder den Boden dafür bereitet. Der Wunsch nach stärkerer Regulierung von sozialen Medien wird teilweise als Wunsch nach Zensur kritisiert. Natürlich besteht die Gefahr, dass man zu weit geht und politische Meinungen unterdrückt. Das wollen wir auf keinen Fall. Wir meinen Hate Speech, Aufrufe zur Auslöschung von gewissen Bevölkerungsgruppen wie den Juden oder die Leugnung des Holocausts. Solche Aussagen sind in der Schweiz gesetzlich verboten und müssen auch effektiv sanktioniert werden können, wenn sie in sozialen Medien stattfinden.

Der Umgang mit Sexismus und sexueller Gewalt als Vorbild für den Kampf gegen Antisemismus: Ralph Friedländer vom Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund.
Der Umgang mit Sexismus und sexueller Gewalt als Vorbild für den Kampf gegen Antisemismus: Ralph Friedländer vom Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund.Bild: CH Media / Andrea Zahler

Eine ebenfalls heute publizierte, breit angelegte Umfrage zeigt: Das Sicherheitsempfinden der Schweizer Jüdinnen und Juden hat sich im Vergleich zu 2020 signifikant verschlechtert. Doppelt so viele Befragte wie damals vermeiden es heute, gewisse Veranstaltungen und Örtlichkeiten zu besuchen oder Dinge zu tragen, die sie als jüdisch erkennbar machen.
Das muss ein Warnzeichen sein für unsere freiheitlich-demokratische Gesellschaft. Wenn Angst und Verunsicherung zu einem veränderten Verhalten bei den Betroffenen führen, muss unsere Gesellschaft etwas unternehmen.

Was kann sie unternehmen?
Ich bin überzeugt, dass die Schweizer Gesellschaft in der Lage ist, dem Antisemitismus und der Verunsicherung in der jüdischen Gemeinschaft entgegenzuwirken. Wir müssen stärker bewusst machen, welche Mechanismen im Hintergrund ablaufen, wenn antisemitische Vorurteile hervortreten und welche Ängste dies bei der jüdischen Bevölkerung auslöst.

Was braucht es dafür konkret?
Dafür braucht es Bildung, Sensibilisierung und ein Hinschauen der ganzen Gesellschaft. Ich nehme hier den Umgang mit Sexismus und sexueller Gewalt zum Vorbild, bei dem unsere Gesellschaft in den letzten Jahren grosse Fortschritte erzielt hat. Das muss auch beim Antisemitismus möglich sein. Zuversichtlich stimmt mich, dass die Politik den Handlungsbedarf erkannt hat. Etwa mit der Antisemitismusstrategie, die das Parlament beschlossen hat und die der Bundesrat nun erarbeitet.

Wird die von Ihnen angesprochene Antisemitismusstrategie nicht einfach ein weiteres wirkungsloses Papier aus der Bundesverwaltung bleiben?
Wir erwarten, dass die in der Strategie vorgeschlagenen Massnahmen auch umgesetzt werden. Die Antisemitismusstrategie gibt uns eine wertvolle Grundlage, die man nicht unterschätzen darf. Wir und andere politische Akteure werden bei Behörden auf Ebene des Bundes, der Kantone und der Gemeinden konkrete Taten einfordern, dort, wo Handlungsbedarf besteht. (aargauerzeitung.ch/les)

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