William, du hast für watson während drei Tagen den Prozess gegen Thomas N. beobachtet. Kommt das Urteil – lebenslange Haft mit ordentlicher Verwahrung – überraschend?
William Stern: Nein, damit haben die meisten Prozessbeobachter gerechnet. Angesichts der Schwere der Straftat hat sich die lebenslange Freiheitsstrafe abgezeichnet und die Aussagen der Gutachter liessen auf eine ordentliche Verwahrung schliessen. Eine lebenslängliche Verwahrung im Urteil hätte überrascht.
Die Staatsanwaltschaft hatte eine solche gefordert. Ist das Urteil eine Niederlage für die Anklage?
Ich glaube nicht, Staatsanwältin Barbara Loppacher zeigte sich nach dem Urteil verhalten zufrieden, sie könne damit leben, sagte sie wortwörtlich. Ähnlich äusserten sich übrigens auch die Vertreter der Angehörigen und der Partner der getöteten Carla S. Thomas N. wurde in allen Anklagepunkten schuldig gesprochen. Dass sie auch mit einer ordentlichen Verwahrung leben kann, zeigte die Staatsanwaltschaft, indem sie diese als Eventualforderung in die Anklageschrift aufgenommen hatte. Auf der anderen Seite hat sie sich einen Weiterzug ans Obergericht allerdings explizit offengehalten – wie übrigens auch die Verteidigung. Gut möglich, dass schlussendlich das Bundesgericht in Lausanne über den Fall entscheiden muss.
Beide Gutachter sind zum Schluss gekommen, dass bei Thomas N. grundsätzlich therapiefähig sei. Trotzdem forderte Loppacher eine lebenslange Verwahrung. Wie begründete sie das?
Nach den Aussagen der Gutachter am Dienstag überraschte Loppacher in ihrem Plädoyer am Mittwoch bei diesem Punkt tatsächlich viele Prozessbeobachter. Es gibt noch relativ wenig prozessrechtliche Erfahrung mit der lebenslänglichen Verwahrung – einfach weil das Schweizer Recht diese Möglichkeit noch nicht so lange kennt. Loppacher argumentierte wie folgt: Thomas N. soll lebenslang verwahrt werden, weil die Tötungen, der Hauptanklagepunkt, nichts mit seinen allfällig therapierbaren psychischen Störungen zu tun haben. Das ist eine neue Herangehensweise. Loppacher liess hier ein Stück weit auch einen Versuchsballon steigen. Sie versuchte einen Weg zu finden, wie Ankläger in künftigen Fällen eine lebenslängliche Verwahrung erreichen können.
Das Urteil zeigt doch, dass dieser Versuchsballon platzte.
Die lebenslängliche Verwahrung hat sie nicht bekommen, das stimmt. Die gesetzlichen Hürden dafür sind allerdings auch sehr hoch. Doch die Anklage konnte einen Teilerfolg verzeichnen. Eine Minderheit der fünf Richter sprach sich für eine lebenslängliche Verwahrung aus.
Auf der anderen Seite geriet Renate Senn, die Pflichtverteidigerin von Thomas N., stark in die Kritik. Der «Blick» bezeichnete sie als «Killer-Anwältin», die «Opfer verhöhnt». Wie hast du Senns Auftreten wahrgenommen?
Man muss vorausschicken: In einem Rechtsstaat hat jeder Anspruch auf einen fairen Prozess und einen Rechtsbeistand, der sich für ihn einsetzt. Es gehört zur Aufgabe der Pflichtverteidiger, für ihre Mandanten das Beste herauszuholen. Das ist Senns Auftrag und den hat sie zu erfüllen versucht. Es macht die Arbeit von Strafverteidigern auf jeden Fall nicht einfacher, wenn sie in sozialen Netzwerken und Medien zur Zielscheibe werden.
Die Anwälte der Angehörigen kritisierten insbesondere Senns Aussagen, wonach der sexuelle Missbrauch «lediglich zwanzig Minuten» gedauert habe und «nicht von übermässiger Gewalt beherrscht» gewesen sei.
Einige Formulierungen waren vielleicht zu wenig einfühlsam – und möglicherweise taktisch unklug. In der Urteilsbegründung gab es dann auch einen kleinen Seitenhieb von den Richtern in Richtung Verteidigung. Es ist nachvollziehbar, wie schmerzhaft diese Worte Senns für die Angehörigen der Opfer sein müssen. Aber in einem Prozess versuchen sowohl die Anklage als auch die Verteidigung, den Tathergang prozesstaktisch motiviert gemäss ihrem Eigeninteresse darzustellen.
Der Vierfachmord von Rupperswil beschäftigte Medien und Öffentlichkeit nun seit mehr als zwei Jahren sehr stark. War in diesem emotional aufgeladenen Klima ein fairer Prozess möglich?
Alle Beteiligten bezeichneten diesen Fall als der schwerste, mit dem sie in ihrem Leben konfrontiert worden sind. Das betonten die durchs Band erfahrenen Gutachter, Richter, Staatsanwälte und Verteidiger. Das lag nicht nur an der beispiellosen Tat, sondern auch an dem grossen medialen Interesse. Deswegen davon auszugehen, die Richter seien in ihrer Entscheidung in irgendeiner Weise befangen gewesen, scheint mir spekulativ.
Wie hast du den Prozess im Gerichtssaal erlebt?
Was mir als Beobachter aufgefallen ist: Es gab eine grosse Diskrepanz zwischen der schrecklichen Tat, die einem emotional aufwühlt, und der Nüchternheit im Gerichtssaal. Es waren zwar durchaus Emotionen zu beobachten, bei den Angehörigen, ihren Vertretern und den Zuschauern. Aber im Grossen und Ganzen wurden die Verhandlungen auf eine nüchterne und sachliche Weise geführt. Einerseits kann dieser Kontrast unbefriedigend sein für die Öffentlichkeit, die sich nach Sühne sehnt. Andererseits ist es aber ein starkes Zeichen dafür, dass der Rechtsstaat seinem Anspruch gerecht geworden ist, einen fairen Prozess zu garantieren. (cbe)