Renate Senn, 47, Pflichtverteidigerin von Thomas N. Ihr Job: Einen mutmasslichen Vierfachmörder in Schutz nehmen. Ihr Mandant habe es eigentlich darauf angelegt, verhaftet zu werden, sagte Senn vor Gericht. Doch Thomas N. habe nicht damit gerechnet, «dass ihm die Opfer derart in die Karte spielen würden».
Wer einen Vierfachmörder verteidigt, der wird gehasst. Wer den Opfern dabei eine Mitschuld gibt, auf den prasselt noch mehr Wut. Senn wird derzeit heftig kritisiert. Auf Facebook wünscht ein User Verteidigerin und Mandant unverblümt den Tod, und auch auf Twitter muss die Anwältin einstecken.
Woah, diese Anwältin macht mich krank. Der Typ hat einen Jungen vergewaltigt und 4 Menschen getötet, aber klar, ER ist das wahre Opfer hier.#Rupperswil
— #hässig (@kiwitage) 14. März 2018
Kann Pflichtverteidigerin Senn wirklich ruhig schlafen. #Rupperswil #augenaufbeiderberufswahl pic.twitter.com/EqY9GvyFxr
— Kopfloser (@footballstar510) 14. März 2018
Doch es sind nicht nur Wutbürger, für die Senn das Letzte ist. Auch der «Blick» übt Kritik, schreibt von einer «Killer-Anwältin», die die Opfer der Gewalttat verhöhne.
Gehasst werden, weil man einen Mörder verteidigt. Rechtsanwalt Thomas Fingerhuth kennt dies aus eigener Erfahrung. «Damit muss man in diesem Business rechnen», sagt Fingerhuth, für den es gefühlsmässig keinen Unterschied macht, ob er jetzt einen Mörder oder Dieb verteidigt.
Fingerhuth war der Pflichtverteidiger eines 37-Jährigen, der einen ihm unbekannten Mann mit einer Pistole erschoss. Er war der Pflichtverteidiger eines 26-Jährigen, der seine Schwiegermutter mit einer angebrochenen Flasche tödlich verletzte. Und er war Pflichtverteidiger der «Zwillingsmörderin von Horgen», die ihre Kinder getötet hatte.
«Im Fall Rupperswil ist es für die Verteidigung sehr schwierig, den richtigen Ton zu treffen,» sagt Fingerhuth, der betont, dass er den Fall zu wenig kenne, um das Plädoyer von Senn zu bewerten. Doch ganz generell lasse sich sagen: «Der Strafverteidiger muss einseitig auf der Seite seines Mandanten stehen.» Er müsse das tun, was dem Mandanten am meisten nütze. «Dabei kann man nicht darauf Rücksicht nehmen, dass man keine Befindlichkeiten verletzt.» Auch nicht die der Opfer. «Die haben ihre eigenen Anwälte.»
In einem Gerichtsprozess sind die Rollen klar zugeteilt. Doch in der Öffentlichkeit ist man sich dessen teils zu wenig bewusst. Oder wie es die Autorin des wissenschaftlichen Artikels «Strafverteidigung – Grenzen der Wahrung von Parteiinteressen» ausdrückt: Es erstaune wenig, «wenn die Öffentlichkeit die eigentliche Aufgabe des Strafverteidigers verkennt und ihn oft als Gehilfen des Verbrechens betrachtet, welcher den gesellschaftlichen Wunsch nach Vergeltung des getanen Unrechts, nach Ruhe und Ordnung torpediert». Dabei werde allerdings übersehen, «dass der Strafverteidiger einzig den Interessen seines Mandanten verpflichtet ist und gerade dadurch seinen Dienst an der Rechtsordnung leistet».
Auch Rechtsanwalt Urs Huber hatte schon brisante Fälle. So verteidigte er vor Gericht den 29-jährigen Doppelmörder A.K., der in Zollikon 2014 seine Eltern mit 57 Messerstichen umbrachte. Zudem vertrat Huber die Fluchthelferin Angela Magdici.
Der erfahrene Anwalt zeigte sich vom Auftritt der Pflichtverteidigerin Renate Senn wenig überzeugt. Seiner Meinung nach darf man die Opfer nie zu Tätern machen und beim Plädieren müsse man grossen Bedacht darauf legen, welche Formulierungen man verwende. Opferverletzende Aussagen wie ‹der Missbrauch des Sohnes habe nur 20 Minuten gedauert›, seien deplatziert und respektlos. «In Anbetracht des Umstandes, dass Thomas N. den Vierfachmord zugegeben hat, bringt eine derartige Verteidigung sowieso rein gar nichts mehr», sagt Huber.
Einen Mörder zu verteidigen, empfindet Huber allgemein nicht als belastend. Als Pflichtverteidiger und erbetener Verteidiger übernimmt er solche Mandate, da sie zu seinem Beruf gehören, den er aus Überzeugung gewählt habe.
Einen Fall Rupperswil zu handhaben, sei für einen erfahrenen Strafverteidiger vom Juristischen her nicht besonders anspruchsvoll, erläutert der Rechtsanwalt weiter. «Die übernommene Verantwortung dafür aber sehr gross und die Taktik und Wortwahl muss in einem solch massiven Fall doppelt gut überlegt sein.»
Pflichtverteidiger können die ihnen zugeteilten Fälle ablehnen, tun dies in der Regel aber nicht. Auch Renate Senn nicht. «Die Staatsanwaltschaft hat mir die schwierige Aufgabe übertragen», hielt sie in einer Medienmitteilung 2016 fest, nachdem ihr Thomas N. als Mandant zugeteilt wurde. Sie versprach im Schreiben, sie werde ihre Arbeit «mit allem Respekt und mit Würde gegenüber den Opfern und den Hinterbliebenen wahrnehmen, denen unfassbares Leid angetan wurde». Sie werde dem Beschuldigten nicht als Sprachrohr dienen.
Diese mitfühlende Geste löste in Anwaltskreisen Kritik aus. Ein Verteidiger dürfe sich nicht von seinem Mandanten distanzieren, hiess es von verschiedenen Seiten. Und Fingerhuth kritisierte damals in einem Interview mit der «SonntagsZeitung»: «Wer, wenn nicht sein Verteidiger, ist das Sprachrohr eines Täters?» Im selben Jahr, in einem Online-Artikel der «Aargauer Zeitung», kommentierte ein Leser: «Frau Renate Senn tut mir einfach nur leid. Wie sie es machen wird, wird es nicht recht sein.»
Barbara Loppacher, 43, Staatsanwältin im Fall Rupperswil. Ihr Job: Die Anklage vertreten – dafür sorgen, dass der mutmassliche Täter Thomas N. bestraft wird. Auch sie ist derzeit Thema auf den sozialen Medien. Ein User schreibt: «Hoch lebe Frau Loppacher!»