«Wie Freiwild gejagt, «die Polizei, dein Feind und Prügelknabe»: Wenn man die Sonntagszeitungen gelesen hat, könnte man meinen, Schweizer Polizisten seien sich ihres Lebens nicht mehr sicher.
Reto Müller: Die Überschriften sind reisserisch gewählt und erscheinen als klassische eye-catcher. Die inhaltliche Aufbereitung im Sonntagsblick ist zudem etwas unglücklich, weil verschiedene Sachverhalte miteinander vermengt werden. Die Tat des behördenbekannten Problemfalls im appenzellischen Rehetobel hat nichts zu tun mit Betrunkenen, die nachts um 1 Uhr an der Zürcher Langstrasse rumpöblen, oder mit Ausschreitungen bei Kundgebungen.
Also alles haltloses
Gejammere?
Leider nicht. Gerade Gewaltphänomene sollten thematisiert werden. Die spannende Frage ist aber, auf welcher Stufe man reagieren will.
Die beiden Zeitungen
zitieren aus der polizeilichen Kriminalstatistik, die eine Zunahme
des Straftatbestandes Gewalt und Drohung gegen Beamte nahelegt ...
Die Zahlen kann ich nicht
beurteilen. Sicher ist: exponierte Personen, dazu gehören
Polizisten, Sanitäter, Feuerwehrleute, sind leider auch in der
Schweiz seit einiger Zeit verstärkt von spontanen Übergriffen
betroffen. Diese Entwicklung kann nicht einfach hingenommen werden.
Wichtig ist daher auch, wie wir als Gesellschaft insgesamt darauf
reagieren und zu klären, ob politischer Handlungsbedarf besteht.
Politiker haben mit Vorstössen im Parlament reagiert.
Ja, es lohnt sich,
diese genauer anzuschauen. Die parlamentarischen Initiativen Guhl (BDP)
und Romano (CVP) etwa wollen die Strafnorm bezüglich «Gewalt und
Drohung gegen Behörden und Beamte» (Artikel 285 des
Strafgesetzbuches) mit einer Mindestfreiheitsstrafe von 3 Tagen (!)
verschärfen. Diese Norm schützt zwar ganz spezifisch die Träger der Hoheitsgewalt und soll ein reibungsloses
Funktionieren der Staatsgewalt sicherstellen. Ob eine Freiheitsstrafe
von mindestens 3 Tagen aber in jedem Fall gerechtfertigt wäre, würde
ich in dieser Absolutheit bezweifeln.
Wieso?
Weil wohl in den
seltensten Fällen der Rechtsstaat als solcher herausgefordert wird, wenn
Polizisten Opfer von Gewalt und Drohungen werden. Betrunkene
Partygänger, die Polizisten bei deren Einsätzen schwer beschimpfen
und allenfalls sogar körperlich anpöbeln, sind noch keine
Staatsgefährder. Der Rechtsstaat würde aber beispielsweise
herausgefordert durch terroristische Akte. Das ist dort der Fall, wo
Polizeiwachen oder einzelne Beamte gezielt und aus politischen
Motiven angegriffen werden. Das gibt es leider in Teilen der Welt,
aber nicht in der Schweiz.
Unabhängig vom
Wortlaut verlangt die erwähnte Initiative eine Strafverschärfung
bei Gewalt und Drohungen gegen Polizisten. Ist das sinnvoll?
Am
1. Januar 2018 tritt eine Revision des Allgemeinen Teils des
Strafgesetzbuchs in Kraft. Die Gesetzesnovelle wird zu einer
allgemeinen Ausweitung der Gefängnisstrafen führen und auch für
die Tatbestände gemäss Artikel 285 zur Anwendung kommen. Sprich
auch bei Gewalt oder Drohungen gegen Beamte wird es öfter zu
Freiheitsstrafen kommen können als bis anhin. Sowieso ist ein
Handlungsbedarf wohl eher im Justizapparat auszumachen als beim
Strafgesetz. Staatsanwaltschaften und Gerichte haben schon jetzt die
Möglichkeit, solche Fälle bei klarem Sachverhalt konsequent zu
ahnden.
Wieso tun sie es dann
nicht?
Bereits die
Staatsanwaltschaften setzen die Anforderungen zur Erhebung von
Anklagen teilweise zu hoch an. Sprich sie verlangen zu viel, weil sie
im Gerichtsverfahren keine Niederlagen riskieren wollen. Ein
schweizweit bekanntes Beispiel kann das illustrieren: im Kanton Bern
wurden Teilnehmer einer Sitzdemonstration gegen
die Miss-Schweiz-Wahl zu einer DNA-Probe aufgeboten, um ein Delikt
nachweisen zu können. Es war für die Aufklärung der fraglichen Tat
aber nicht notwendig und damit auch nicht verhältnismässig, DNA der
Teilnehmenden zu sammeln und auszuwerten! Insbesondere dann, wenn die
Sachlage klar ist und Zeugenaussagen sowie weitere Beweise oder
Protokolle vorliegen, sollten diese ausreichen, um die Schuldfrage in
einem Gerichtsverfahren klären zu können.
Eigentlich könnte man
ja denken, dass Staatsanwaltschaft und Polizei an einvernehmlichen
Lösungen interessiert sind, immerhin muss sich die
Staatsanwaltschaft ja bei der Ermittlung auf die Polizei verlassen
können ...
Seit dem Inkrafttreten der
neuen Strafprozessordnungen ist das Verhältnis zwischen Polizei und
Staatsanwaltschaft in manchen Kantonen etwas verkrampft. Polizisten
haben im Vergleich zu früher weniger Kompetenzen bei der Ermittlung
– die Federführung liegt bei den Staatsanwaltschaften. Polizisten sind oft keine Juristen, aber erfahrene
Praktiker, welche zum Handeln tendieren. Die Staatsanwaltschaften
sind demgegenüber weiter von den Fällen entfernt und agieren
zurückhaltender. Zudem sind die Staatsanwaltschaften oft noch
stärker überlastet als die Polizei. Am Schluss aber dient die
Strafprozessordnung dazu, Delikte rechtsstaatlich korrekt
aufzuklären.
Was sollte Ihrer
Meinung nach konkret geändert werden?
Ich glaube, es braucht
einerseits mehr Ressourcen auf Seite der Staatsanwaltschaften und
selbst bei den Gerichten. Anderseits muss die Breitschaft vorhanden
sein, bestehendes Gesetzesrecht konsequent anzuwenden. Die
Strafverfolgungsbehörden können durchaus Schwerpunkte setzen.
Delikte, welche auf Gewalt und Drohungen gegen Behörden und Beamte hinauslaufen, sollten prioritär und entschlossen behandelt werden.
Haben härtere Strafen
überhaupt eine Wirkung?
Das hofft man ja, aber ich
bezweifle es. Abschreckend wirkt oft nicht die Höhe einer Strafe,
sondern die Gewissheit, dass bei einem erkannten Delikt tatsächlich
ein Verfahren an die Hand genommen wird. Damit geht es wieder um den
oben bereits angesprochenen Punkt: die Staatsanwaltschaften und
Gerichte sollten entsprechend handeln, indem sie Verfahren anstrengen
und möglichst zügig durchführen, um dann gestützt auf das
Strafrecht eine Strafe auszufällen oder aber die Unschuld einer
beschuldigen Person festzustellen. Eine Strafschärfung betrifft aber
primär das Strafmass am Ende eines Verfahrens und würde bei
einzelnen Delikten wohl keine zusätzliche Abschreckung bewirken.
Was ist von der
Forderung zu halten, dass Staatsanwälte und Richter mit Polizisten
auf die Strasse sollten, um selber Zeuge der angeblich unhaltbaren
Zustände zu werden?
Es macht oft einen grossen
Unterschied, ob man sich ein Bild aus den Akten machen, oder ob man
sich vor Ort mit einer gewissen Art von Sachverhalten
auseinandersetzen muss. Aber gleichwohl dürfen Beamte, welche zu
Zielen von Übergriffen geworden sind, in Verfahren nicht allgemein
privilegiert werden. Es gilt auch hier das Prinzip der
Rechtsgleichheit.
Was bedeutet das?
Körperverletzung etwa ist ein Gewaltdelikt
unabhängig davon, wen sie trifft. Jedoch hat der Gesetzgeber bei
Gewalt und Drohung gegen Beamte die erwähnte spezielle Strafnorm
geschaffen. Daraus kommt ein besonderes öffentliches Interesse zum
Ausdruck, welches durchaus berücksichtigt werden kann.
Polizisten und
Polizeigewerkschafter führen die Zunahme auf die allgemeine
Verrohung der Gesellschaft zurück. Ist das plausibel?
Ob die Gewalt selbst
zugenommen hat oder ob vielmehr die Sensibilität dafür gestiegen
ist, kann ich aus meiner Warte nicht beurteilen. Gewisse Phänomene
insbesondere im Gewaltbereich kann man aber feststellen: Zu denken
ist nicht nur an Gewalt gegen bestimmte Personen, sondern auch an
Hooliganismus oder perfide Aktionen wie «Happy Slapping».
Der «Sonntagsblick» zitiert aus einer Studie, die von einem Polizisten durchgeführt
und auf einer Umfrage unter Polizisten basiert. Diese besagt, dass 67
Prozent aller Beamten schon einmal Opfer von Ehrverletzungen wurden.
Wie repräsentativ sind solche Zahlen und Aussagen von Betroffenen?
Ohne Kenntnis der
Untersuchung und der verwendeten Methoden ist es schwierig, eine
Aussage zu treffen. Ganz generell würde ich aber Ehrverletzungen
nicht überbewerten. Vor allem dann nicht, wenn es sich um
vereinzelte Ausfälligkeiten oder um eigentliche Dummheiten handelt.
Natürlich gebietet es der Anstand, Beamte respektvoll zu behandeln –
so wie man auch mit allen anderen Menschen einen respektvollen Umgang
pflegen sollte. Menschen sind aber nicht gesetzlich dazu
verpflichtet, Respekt vor dem Staat und seinen Repräsentanten zu
haben.
Für die Polizisten
scheinen die Beschimpfungen aber ein grosses Thema zu sein ...
Einen Polizisten zu
beschimpfen ist sicher grob unanständig und kann einen allgemeinen
Ehrverletzungstatbestand erfüllen – es hindert ihn aber nicht an
der Vornahme einer Amtshandlung. Etwas anderes kann für Äusserungen
gelten, welche über Beschimpfungen hinaus reichen. Wenn einem
Polizisten etwa glaubhaft damit gedroht wird, dass man ihm oder
seinen Angehörigen privat Schaden zufügen werde, so liegt zumindest
der Versuch einer verbalen Nötigung eines Amtsträgers vor. Der
sogenannte «Unrechtswert» wiegt dann schwerer.
Rafael Behr, ein
deutscher Soziologe und ehemaliger Polizeibeamte sagt, dass die
Gewaltwahrnehmung und Sensibilität gestiegen sei, nicht aber die Gewalt
selber: Mobbing, freches Lachen, das Nichtbefolgen von Anweisungen
und Beleidigungen – das führe zu einer inflationären Nutzung des
Begriffs.
Unbestritten ist, dass die
öffentlichen Interessen sich mit der Zeit wandeln können. Ein
Beispiel wäre wiederum der Hooliganismus: Seit etwas mehr als 10
Jahren wird hierzulande die Diskussion um Massnahmen gegen Gewalt im
Zusammenhang mit Fussball- und Eishockeyspielen geführt. Zuerst hat
der Bund gehandelt, inzwischen ist das kantonale Hooligan-Konkordat
massgeblich.
Und bei der Gewalt gegen Polizisten?
Ein öffentliches Interesse, Drohungen oder eigentlicher
Gewaltanwendung gegen Beamte speziell zu ahnden, hat der Gesetzgeber
bereits mit der Norm im Strafgesetzbuch anerkannt. Dieses öffentliche
Interesse kann sich angesichts neuer Gewaltphänomene verstärken.
Hingegen möchte ich Rafael Behr beipflichten, dass die Bedeutung von
Handlungen unterhalb der eigentlichen Gewaltschwelle wie plumpe
Beschimpfungen, leichte Rempeleien und dergleichen nicht überbetont
werden sollte.
Polizisten,
Polizeigewerkschafter und Politiker fordern seit Jahren immer wieder:
Mehr Sensibilität für die Polizisten, bessere Ausrüstung, mehr
Mittel, mehr Personal. Sind diese Wünsche überhaupt gekoppelt an
tatsächliche gesellschaftliche Entwicklungen?
Bei der Ausrüstung ist
man sicher sensibler geworden. Zurecht weist der Zürcher
Sicherheitsdirektor Mario Fehr auf Verbesserungen bei der
Schutzausrüstung für Polizisten hin. Neben der
Schutzausrüstung muss der Polizei aber ganz allgemein eine adäquate
Ausrüstung zur Verfügung gestellt werden. Es darf keine «Lücke
zwischen der Hand und der Schusswaffe» klaffen. Daher werden die
Polizistinnen und Polizisten heute mit «Mehrzweckstöcken» und
Reizgassprays ausgerüstet. Dies erhöht die Variabilität ihrer
Handlungsmöglichkeiten und erleichtert insgesamt verhältnismässige
Reaktionen. Sprich eine gute Ausrüstung ermöglicht es, ein
vernünftiges Verhältnis zwischen einer Massnahme und dem
angestrebten Zweck zu wahren und gleichzeitig eine mögliche
Gefährdung für die Beamten zu minimieren.
Und die Diskussion über
die personellen
Mittel?
Die Diskussion über
Bestände, also über die Grösse der personellen Ressourcen, gibt es
seit rund 20 Jahren. Das übergeordnete Problem ist: wenn Kantone
sparen wollen, können sie das am effektivsten bei jenen Ausgaben
tun, welche nicht gesetzlich gebunden sind. Wirklichen Spielraum
haben sie beim Personal und dort insbesondere beim Personal im
Bildungsbereich und bei den Polizisten. Die Bevölkerung wächst
stetig, hingegen blieb die Zahl der Polizisten mancherorts über
Jahrzehnte stabil.
Was hat das zur Folge?
Das hat dazu geführt, dass sich das Verhältnis
zwischen Polizei und Einwohnerzahl kontinuierlich verschlechtert hat.
Man spricht von einer «abnehmenden Polizeidichte». Dies führt
unter anderem dazu, dass für spezifische Sicherheitsbedürfnisse
Märkte für private Sicherheitsdienste entstanden sind. Heute haben
die privaten Sicherheitsdienstleister in der Schweiz etwa den
gleichen Bestand wie alle staatlichen Polizeikorps zusammen.
Ungenügende Polizeibestände stellen den Kern des staatlichen
Gewaltmonopols infrage.
Sind Polizisten denn
heutzutage überhaupt gut genug ausgebildet? Als Betroffener, aus
einer subjektiven Position muss man sagen: Jein. Man hat das oft das
Gefühl, die Polizisten hängen einer vergangenen Autoritätsposition
nach ...
Deeskelation ist in der
polizeilichen Ausbildung schon länger ein Thema – im Grossen wie
im Kleinen. Zudem gehören unüberlegte Zugriffe vielerorts der
Vergangenheit an. Vielmehr ist gerade bei Situationen mit
Eskalationspotenzial entscheidend, mit welchem Kräfteansatz und mit
welchen Mitteln agiert werden kann. Die weitere Frage nach der
Autorität ist spannend. Es gibt Untersuchungen zu den
psychologischen Auswirkung von Polizeiuniformen und Ausrüstungen.
Wieso etwa geniesst der englische «Bobby», der keine Waffe trägt,
eine vergleichsweise hohe Autorität? Mögliche Antworten deuten auf
die Wirkung seiner übergrossen Kopfbedeckung sowie auf die Bedeutung
der natürlichen Autorität dieses Beamten hin.
«Refugees
Welcome»-Demos, bei denen Polizisten in Vollmontur vor dem
Wasserwerfer stehen - Ist das verhältnismässig?
Dazu müsste man die
konkrete Lagebeurteilung kennen. Aber die Tatsache, dass
Polizeikräfte präsent sind, auch in Ordnungsdienstmontur und mit
Wasserwerfer, tangiert die Verhältnismässigkeit eines Einsatzes aus
juristischer Sicht noch nicht. Je nach Umständen kann ein «Show of
Force» angezeigt sein. Die rechtlich zu beurteilenden
Verhältnismässigkeitsfragen stellen sich primär dann, wenn
konkrete Zwangsmassnahmen ergriffen werden. So wäre es etwa nicht
zulässig, die Teilnehmenden einer friedlichen Demonstration
einzukesseln oder zu kontrollieren.
Die «Sonntagszeitung» schreibt in einem Editorial: «Wir müssen die Menschen schützen,
die unseren Rechtsstaat schützen.» Ist das eine richtige
Interpretation der Polizeiarbeit? Sind Polizisten nicht vielmehr dazu
da, das Gewaltmonopol durchzusetzen?
Einverstanden. Der
Rechtsstaat wird durch die Verfassung garantiert und durch die Justiz
geschützt. Insbesondere richtet sich polizeiliches Handeln, also die
legitime Ausübung des Gewaltmonopols, nach den Regeln des
Rechtsstaates. Ein Angriff auf den Rechtsstaat findet durch
terroristische oder umstürzlerische Aktivitäten statt, aber meines
Erachtens nicht durch beschwipste Pöbler, die sich daneben benehmen.
Wenn es hier zu Gewalttaten kommt, fehlt diesen eine strategische
Dimension.