«Meine Eltern fanden die Sexszenen unterhaltsam»
Nelio Biedermann, Ihr Roman «Lázár» führt die Schweizer Bestsellerliste an und ist für den Schweizer Buchpreis nominiert. Es ist das Buch der Stunde. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Nelio Biedermann: Ich glaube, was das Publikum anspricht, sind lustvoll erzählte Geschichten und die Mischung aus Historischem und Fiktionalem, manchmal fast Mystischem oder Fantastischem, wobei das eine nahtlos ins andere übergeht. Man kann sich einfach vom Buch unterhalten lassen. Dass ausgerechnet der eigene Roman so gut ankommt, wünscht man sich natürlich, aber man traut sich kaum, es im Voraus zu hoffen.
Einen derart grossen Erfolg hat wohl noch niemand in der Schweizer Literatur schon in ihrem Alter von 22 Jahren gehabt, auch nicht Frisch und Dürrenmatt. Wie nehmen Sie den Rummel um Ihre Person und Ihr Buch wahr?
Ich muss mich erst daran gewöhnen, weil alles so neu und surreal ist. Manchmal sehe ich auf meinem Handy eine Werbung mit meinem Gesicht darauf oder entdecke in Zeitungen Artikel über mich. Ich lese sie, aber dass gleichzeitig so viele Menschen dieselben Artikel lesen, begreife ich noch nicht so richtig. Es ist eine schöne, aber eigenartige Erfahrung, sich auf diese Weise plötzlich selber zu begegnen.
Was bedeutet Erfolg für Sie?
In der Schule war ich eigentlich gar nicht ehrgeizig, ich habe eher versucht, mit möglichst wenig Aufwand durchzukommen. Als ich das Schreiben entdeckte, habe ich zum ersten Mal gemerkt, dass mich etwas wirklich fasziniert. Beim Schreiben denke ich aber nicht an Erfolg.
Man vergleicht Sie in der FAZ und anderswo bereits mit Thomas Mann. Ist er ein Idol?
Ich bewundere ihn sehr. Für dieses Buch – es ist ja ein Familienroman – habe ich die «Buddenbrooks» gelesen. Ich wollte vermeiden, dass man mir Bezüge zu Thomas Mann nachweist, die mir selber nicht bewusst waren. Lob und Kritik nehme ich allerdings immer mit einer gewissen Distanz auf. Ich bin sehr kritisch mit mir, vermutlich kritischer als Aussenstehende.
Welche Rolle spielte die Qualität Ihres Manuskripts und welche, dass Sie erst 22 Jahre alt sind?
Es fasziniert die Leute wahrscheinlich zusätzlich. Das kenne ich auch von mir, wenn ich junge Fussballer sehe. So verblüffte bei der letzten EM etwa der damals erst 17-Jährige Lamine Yamal. Man achtete besonders auf ihn. Zuerst musste er aber die Qualität erreichen, dass er mitspielen konnte und die Leute ihn überhaupt wahrnahmen. So ähnlich ist das wohl bei mir und meinem Buch. Mir gefällt, dass man nicht sagt: «Das Buch findet nur Beachtung, weil Sie so jung sind.» Sondern: «Es ist so gut – und Sie sind so jung.» Das ist ein schöner Unterschied.
Jungtalente haben im Fussball oft einen höheren Marktwert als erfahrene Spieler. Ist das im Literaturbetrieb ähnlich?
Sicher ist es für die Verlage attraktiv, wenn sie wissen, dass von einem jungen Autor noch viel zu erwarten ist. Bei mir spielt aber sicher auch eine Rolle, dass ich das Geschichtenerzählen in den Vordergrund stelle. Das kommt gut an.
Stimmt das mit dem sechsstelligen Vorschuss, den Sie erhalten haben?
Darüber haben der Verlag und ich – wie üblich – Stillschweigen vereinbart.
Aber wie ist es möglich, dass so hohe Summen im Spiel waren, bevor das Manuskript ganz fertig war?
Ich bin mit dem noch unvollendeten Manuskript zu meiner Zürcher Agentur Liepman gegangen, und die hat den Text an verschiedene Verlage in Deutschland und in der Schweiz geschickt. Dann sind gleich sieben Verlage darauf angesprungen und haben geboten. Das war auch für mich erstaunlich, weil ich bei meinem ersten Buch «Anton will bleiben» noch in der umgekehrten Position war: Da musste ich mich bewerben. Und nun kamen plötzlich Angebote. Ich konnte auswählen und entschied mich für Rowohlt Berlin, auch weil ich an einer langfristigen Zusammenarbeit interessiert bin.
Hatten Sie einen Mentor, der Sie beim Schreiben unterstützt hat?
Nein. Aber ich schreibe täglich, feile daran und lese auch, wie es die ganz grossen Autorinnen und Autoren machen.
Sie studieren noch Germanistik in Zürich. Ist es ein komisches Gefühl, wenn Sie nun als neuer Literaturstar an die Uni gehen?
Bisher habe ich im Uni-Umfeld sehr positive Reaktionen bekommen. Und viele meiner Freunde kennen mich schon von früher. Sie beobachten das alles sehr gespannt und freuen sich mit mir, weil sie sehen, dass auch ich mich sehr darüber freue. Ich wünsche mir, dass ich nicht anders behandelt werde, nur weil das Buch jetzt draussen ist.
Gegenwärtig boomt das Buchgeschäft dank des jüngeren Booktok-Publikums, das Romantik und Sex liebt. Beides ist auch in Ihrem Roman reichlich vorhanden.
Ja, aber bei mir ist es nicht die süssliche, sondern eher die sogenannte schwarze Romantik, wie sie etwa bei E.T.A. Hoffmann zum Ausdruck kommt. Bei mir hat Romantik immer etwas Bedrohliches, etwas, das die Figuren in Bedrängnis bringt. Das Erotische wollte ich wie das Romantische nicht aussparen. Wenn ich von verschiedenen Generationen erzähle und Figuren beim Aufwachsen begleite, gehört die erwachende Sexualität dazu. Aber es ist nicht das Hauptmotiv des Buches.
Viele Autoren tun sich schwer damit, explizit über Sex zu schreiben. Wie ist es bei Ihnen?
Es ist schon schwieriger als anderes. Alles Intensive ist schwierig zu schreiben. Sexszenen haben bei mir meist etwas leicht Absurdes. Das gab mir mehr Freiheit beim Schreiben.
Man könnte auch sagen, viele Figuren haben einen merkwürdigen Fetisch. Einer fühlt sich erregt, wenn ihm die Frau eine schmutzige Zehe in den Mund steckt. Wie kommen Sie auf solche Ideen?
Ich weiss oft selbst nicht genau, wie ich auf solche Dinge komme. Es ist schwer nachzuvollziehen. Manchmal stösst ein kleines Detail etwas an – etwas, das ich sehe oder beobachte –, und daraus entsteht ein Dominoeffekt: Nach und nach werden verschiedene Gedanken angestossen, die sich dann zu einer Handlung oder zu einer Figur entwickeln.
Sie haben in Gesprächen gesagt, Sie würden sich beim Schreiben der Sexszenen etwas blockiert fühlen, weil Sie daran denken, wie wohl Ihre Eltern darauf reagieren. Wie haben sie reagiert?
Sehr positiv und entspannt. Sie fanden es unterhaltsam, auch wegen der Absurdität in diesen Szenen. Ich habe mir ihre Reaktion viel schlimmer vorgestellt, als sie war.
Uns hat erstaunt, dass Sie, anders als etwa Kim de l’Horizon, der sich mit dem eigenen Leben auseinandersetzt, eine weit zurückliegende Vergangenheit in den Mittelpunkt Ihres Romans stellen.
Für mich war von Anfang an klar, dass ich mich an meiner Familiengeschichte inspiriere. Doch während des Schreibens kommen dann viele Dinge intuitiv zusammen. Ich sitze nicht da und überlege, wie ich etwas konzipiere, damit es möglichst oft gelesen wird. Ich suche nach dem, was für mich dringlich ist, nach der Geschichte, die ich erzählen muss. Das Thema war also gegeben, aber ich musste dafür eine Sprache finden, die zu dieser Zeit passt, ohne verstaubt zu sein. Es ist nicht die Sprache von Thomas Mann, aber es gibt sicher Überbleibsel. Ich wusste, dass ich nicht in einer gegenwärtigen Sprache schreiben kann. Das war für mich die grösste Herausforderung.
Thomas Hürlimann hat uns einmal in einem Interview gesagt, konservative Geister seien die besseren Schriftsteller. Geschichte sei immer etwas Abgeschlossenes, und Konservative blickten zurück. Einverstanden?
Vielleicht wirkt es einfacher, über etwas Abgeschlossenes zu schreiben, weil man den Überblick hat. Andererseits weiss man aber nicht, wie das Gefühl war, damals zu leben. Wenn man über die Gegenwart schreibt, kennt man zwar das Lebensgefühl dieser Zeit sehr genau, weiss aber nicht, wohin sich alles entwickelt. Auch das ist eine grosse Unsicherheit. Schreiben bleibt so oder so schwierig – egal, ob man rückwärts oder vorwärts schaut.
Viele Epochen, von denen Sie in «Lázár» erzählen – ob Donaumonarchie, Erster und Zweiter Weltkrieg, Sowjetzeit –, sind schon oft dargestellt worden, auch in der Weltliteratur. War das nicht belastend beim Schreiben?
Ja, das hat mich beschäftigt. Aber ich wusste, dass ich aus einer heutigen psychologischen Perspektive schreiben muss. Das ist der einzige Vorteil, den ich gegenüber den früheren Autoren habe. Sie konnten aus ihrer eigenen Zeit heraus schreiben. Ich habe dafür den Überblick, den sie unmöglich haben konnten: Ich weiss, was auf all die Ereignisse folgte. Ich bin nicht in die Zeit verstrickt und konnte gleichzeitig modernere Elemente in den Text einbauen. Und ich merkte, dass jene vergangene Zeit sich auf unsere Gegenwart übertragen lässt.
Können Sie die Parallelen etwas konkretisieren?
Auch wir leben wieder in einer Zeit voller Unsicherheiten, die auch die Menschen damals empfanden. Es gibt heute wie damals viele Umbrüche und das Gefühl, dass vielleicht etwas zu Ende geht und etwas Neues beginnt. Man muss sich neu orientieren. Viele Menschen fühlen sich hin- und hergerissen von diesen politischen und wirtschaftlichen Umwälzungen. Und dann gibt es trotz all der gravierenden Ereignisse doch weiter die ganz persönlichen Dramen und Verstrickungen, die die Menschen und auch meine Figuren erleben. Diese privaten Probleme beschäftigen sie zum Teil mehr als alles, was rundherum weltpolitisch passiert. Mir war wichtig zu zeigen, wie Persönliches und Geschichtliches ineinandergreifen und sich gegenseitig beeinflussen.
Sie erzählen, wie die Adelsfamilie von Lázár immer mehr den Atem Sowjetrusslands im Nacken hat. Eine sehr aktuelle Konstellation: Neben den Ukrainern spürt man auch in Polen und im Baltikum wieder diesen Atem des imperialistischen Russlands.
Ja, und plötzlich gibt es wieder Krieg in Europa. Eine Figur, Lajos, sagt, er hätte nie gedacht, dass es nach dem Zweiten Weltkrieg noch einmal Krieg in Europa geben werde. Viele von uns dachten ebenfalls, dass es nie mehr so weit kommen könnte – und nun ist es wieder da. Und Literatur kann etwas, was reine Geschichtsschreibung nicht kann: Sie erzählt die Geschichten dahinter. Die Zeit, über die ich schreibe, ist für uns heute oft nur eine Ansammlung von Zahlen, Fakten und Namen. Selbst ich, obwohl es meine Familiengeschichte betrifft, kannte zwar die Erzählungen, habe aber erst beim Schreiben wirklich verstanden, was die Ereignisse für die Figuren – und für meine Familie – bedeuteten.
Was genau ist denn aus Ihrer Familiengeschichte in den Roman eingeflossen?
Die Figuren sind alle völlig fiktiv, das war mir wichtig. Aber die grossen Stationen, die sie durchlaufen, sind dieselben, die auch meine Familie durchlaufen hat.
War ihre Familie auch in Besitz eines «Waldschlosses» wie im Buch?
Es gab verschiedene Schlösser. Das Schloss, das ich beim Schreiben vor Augen hatte, ist heute nicht mehr von Wald umgeben, sondern von Feldern. Es gibt aber auch ein Jagdschloss, das tatsächlich mitten in einem Wald liegt. Ich habe verschiedene reale Orte zusammengefügt. In einigen der Schlösser hängen heute immer noch Portraits meiner Urgrosseltern.
Ihre Familie musste fliehen und alles zurücklassen. Wurde ihr später etwas von dem Besitz zurückgegeben?
Anders als in Deutschland kam praktisch nichts zurück. Mein Grossonkel, der wieder in Budapest lebt, hat ein kleines Stück Land erhalten, das er bewirtschaften kann, aber keine Schlösser. Diese befinden sich heute in Privat- oder Staatsbesitz.
Ist das nicht ein merkwürdiges Gefühl, wenn man weiss, dass es einmal der eigenen Familie gehörte?
Für mich nicht. Ich bin nicht damit aufgewachsen. Schon als Kind war klar, dass es uns nicht mehr gehört. Wir besuchten die Orte zwar, aber für mich hatte das fast etwas von einem Roman.
Wie ist Ihre Familie in der Schweiz angekommen? Hatten sie noch ein adliges Bewusstsein?
Meine Angehörigen hatten das Glück, dass die ungarischen Flüchtlinge – im Gegensatz zu den jüdischen – in der Schweiz sehr herzlich empfangen wurden. Trotzdem mussten sie sich ein neues Leben aufbauen. Das war sicher schwierig: Sie hatten zunächst im Überfluss gelebt, dann alles verloren. Nachdem sie sich in Ungarn wieder etwas aufgebaut hatten, mussten sie erneut fliehen und wieder von vorn anfangen. Mein Vater wurde gleich nach der Flucht in der Schweiz geboren. Er wuchs sehr schweizerisch auf, zu Hause wurde aber Ungarisch gesprochen.
Haben Sie selbst ein «Adelsgefühl»? Tragen Sie die Adelsvergangenheit Ihrer Familie in sich?
Nein, überhaupt nicht. Ich trage zwar den Siegelring meines Grossvaters (zeigt auf seinen Ringfinger), aber ich habe kein Adelsbewusstsein. Mein Grossvater hatte es wohl noch, weil er damit aufgewachsen ist. Für mich waren diese Geschichten aber immer faszinierend.
Benutzen Sie künstliche Intelligenz als Werkzeug zum Recherchieren oder Schreiben?
Nein, weder zum Schreiben noch zum Recherchieren. Ich habe sogar begonnen, wieder von Hand zu schreiben. Bei meinem ersten Roman habe ich gemerkt, dass ich, wenn es schwierig wurde, besser vorankam, wenn ich mit Stift auf Papier schrieb. Bei «Lázár» habe ich dann gleich von Anfang mit der Hand geschrieben. Am nächsten Tag tippe ich dann das Geschriebene ab und überarbeite es gleich.
Könnten Sie sich vorstellen einmal KI zum Schreiben zu nutzen?
Ich finde nicht, dass die Nutzung von KI per se schlecht wäre. Man könnte sie durchaus integrieren, um ein Kunstwerk zu schaffen. Ich selbst habe es bisher nicht getan. Ich finde es schön, etwas zu schreiben, von dem ich am Ende weiss, dass es mein eigenes Werk ist.
Wird ihr nächstes Buch wieder in der Vergangenheit spielen?
Ich weiss, dass es in der Gegenwart spielen wird. Ich habe mich lange schwergetan, über die Gegenwart zu schreiben, und musste mich sozusagen an sie herantasten. Auch in «Lázár» nähere ich mich bereits der Gegenwart an – es beginnt im 19. Jahrhundert und endet nach dem zweiten Weltkrieg. Jetzt bin ich so weit, dass ich wirklich über die Gegenwart schreiben kann.
(aargauerzeitung.ch)