Peter Bichsel ist vor einer Woche gestorben, kurz vor seinem 90. Geburtstag. Ich habe ihn einmal persönlich getroffen, vor einigen Jahren in Olten in einem kleinen Kreis mit anderen Medienleuten. Es ging um die Krise unseres Berufsstands. Der Solothurner Schriftsteller argumentierte mit einer Schärfe, die verblüffte. Sein Werk war klein, sein Denken aber gross.
Worin lag das Geheimnis seines klaren Verstands? Vermutlich daran, dass der Berater und Freund des «Büezer-Bundesrats» Willi Ritschard etwas gegen Optimisten hatte. In einem seiner letzten Interviews mit der «NZZ am Sonntag» nannte er den Grund: «Sie haben die Welt zerstört.» Ich musste tief durchatmen, denn von Natur aus bin ich ein Optimist.
Der Grund, den Peter Bichsel für seine Abneigung nannte, leuchtet jedoch ein: «Das kommt schon gut, die Natur erholt sich, die Gletscher werden wieder wachsen, man muss nichts unternehmen: Das ist Optimismus.» Oder anders gesagt: Optimisten sehen durch die rosarote Brille ein Glas, das mindestens halb voll ist, nach dem Motto «Chunt scho guet».
Selten war diese Einstellung so daneben wie heute. Sie hat dazu geführt, dass die Europäer an den ewigen Frieden glaubten und nun im wahrsten Sinn teuer dafür bezahlen. Sie trägt zu einem sorglosen Umgang mit Technologien bei, deren Folgen wir nicht absehen können. Und sie verleitet uns zu einem fahrlässigen Umgang mit unseren Lebensgrundlagen.
Warum auch nicht? Chunt scho guet.
Besonders verheerend zeigen sich die Folgen derzeit in einem Land, das regelrecht auf Optimismus gebaut ist: den Vereinigten Staaten von Amerika. Der Mythos des «American Dream», in dem es alle auf einen grünen Zweig bringen, die clever genug und bereit sind, hart zu arbeiten, ist unausrottbar. Und er ist für immer weniger Menschen erreichbar.
Das Gefühl, um ihr Streben nach Glück betrogen worden zu sein, durch Migranten oder woke Eliten, hat uns Donald Trump beschert, zum zweiten Mal. Sein Slogan «Make America Great Again» ist ein Kondensat des verlorenen Optimismus. Als Instinktmensch versteht es Trump, die dadurch entstandenen Ressentiments unter seinen Anhängern auszuschlachten.
Während demokratische und republikanische Politiker an den Optimismus ihrer Landsleute appellierten, pöbelte Trump schon vor Jahrzehnten, die USA gingen vor die Hunde. Nun sehen wir, wohin das geführt hat. Dass das «goldene Zeitalter», das der Demagoge seinen Landsleuten verspricht, aus Narrengold besteht, wollen sie (noch) nicht sehen.
Obwohl ich mich selbst zu den Optimisten zähle, war mir die naive amerikanische Zuversicht schon lange suspekt. Man fand sie selbst bei klugen Denkern wie dem Ökonomen Joseph Stiglitz oder dem «New York Times»-Kolumnisten Thomas Friedman, die Missstände unerbittlich aufzeigten und am Ende doch von ihrem Optimismus nicht lassen konnten.
Die richtigen Schlüsse zogen Realisten wie der neokonservative Historiker Robert Kagan oder der Politologe Mark Lilla, der das linksliberale Milieu, dem er selbst angehört, schon vor bald zehn Jahren vor zu viel Identitätspolitik gewarnt hat. Statt auf Homo-Ehe oder genderneutrale Toiletten solle es wieder auf Themen wie Solidarität und Chancengleichheit setzen.
Ich habe in jener Zeit einen Auftritt von Mark Lilla an der Universität Zürich erlebt. Er ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Seither empfand ich eine gewisse Skepsis gegenüber der Wokeness, auch wenn sie gut gemeint war. Wie recht der Politologe hatte, zeigen der letztjährige Wahlkampf der Demokraten und ihr derzeitiger lamentabler Zustand.
«Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral», heisst es in der «Dreigroschenoper» von Bertolt Brecht. Optimisten aber neigen dazu, das Pferd am Schwanz aufzuzäumen. Gerade die Linken sind überzeugt, dass sie sich für eine «gute Sache» einsetzen, und wundern sich, warum ihnen nicht alle folgen. Vielleicht ist Peter Bichsel deshalb aus der SP ausgetreten.
Die rosa Brille vernebelt den Blick für das Wesentliche. Und sie kann die Neigung verstärken, Unangenehmes zu verdrängen. Das zeigt sich besonders gut an der Einstellung vieler Menschen zum Klimawandel und zur generellen Zerstörung der Natur. Es ist wie mit dem Rauchen: Man weiss eigentlich, dass es tödlich ist, und macht es trotzdem.
Man setzt vage auf technologische Lösungen, die längst vorhanden wären, in Form von Elektroautos, Wärmepumpen oder Solaranlagen. Und kauft trotzdem wieder einen Verbrenner, baut eine Ölheizung ein und bucht die nächsten All-inclusive-Badeferien in der DomRep. So etwas geht nur mit Verdrängung, angereichert durch naiven Optimismus.
Irgendwie sind wir tatsächlich die «dümmste Generation». Optimismus ist nicht grundsätzlich falsch. Er hilft uns bei der Bewältigung unseres Alltags. Und doch traf Peter Bichsel ins Schwarze: «Chunt scho guet» ist kein Rezept für die Probleme der Gegenwart. Er sagte von sich, er sei eher ein trauriger Mensch, aber depressiv muss man nicht werden.
Es bringt nichts, sich von der chaotischen Welt verrückt machen zu lassen oder an ihr zu verzweifeln. Aber ein gesunder Pessimismus ist angebracht. Er schärft den Verstand. Wenn man mich fragt, bezeichne ich mich heute mit Vorliebe als geborenen Optimisten und gelernten Pessimisten. Mit «Chunt scho guet» aber muss mir niemand mehr kommen.
Optimismus ist nicht gleich Ignoranz. «Chunt scho guet» ist ein Zeichen von Ignoranz.
Optimismus in Zeiten von Corona zB war das (Selbst-) Vertrauen der Wissenschaft, eine Lösung zu finden und darum auch konzentriert darauf hin zu arbeiten. Pessimismus hätte die Menschen paralysiert - und Ignoranz hat einige Glocken läuten lassen.
Optimismus ist eine Geisteshaltung, die eine auch in widrigen Zeiten nach Lösungen Ausschau halten lässt und einem vor der mentalen Kapitulation bewahrt. Optimismus ist überlebenswichtig!
Und um das jetzt etwas unwissenschaftlich zu sagen: Ich habe auch Beobachtungen in meinem privaten Umfeld das Gefühl, dass Pessimismus mehr lähmt als Optimismus. Aber das kann auch Zufall sein.