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Schweiz: Mehr als 3000 Ärztinnen und Ärzte ohne anerkanntes Diplom

In der Schweiz arbeiten mehr als 3000 Ärztinnen und Ärzte ohne anerkanntes Diplom

20.10.2025, 15:2220.10.2025, 17:13

Nick (22) starb 2023 in der Psychiatrie Königsfelden an einer Methadonüberdosis – ein Fall, der wie der Tagesanzeiger in einer Recherche aufzeigt, ein neues Phänomen in den Fokus rückt. Die Therapie hatte eine Ärztin aus Osteuropa verschrieben, deren Diplom damals in der Schweiz nicht anerkannt war. Die Eltern des Verstorbenen haben nun eine Aufsichtsbeschwerde eingereicht.

ILLUSTRATION - 27.05.2025, Sachsen, Dresden: Ein Hausarzt sitzt in einem Sprechzimmer seiner Hausarztpraxis an einem Schreibtisch neben einem Stethoskop und arbeitet am Computer. (zu dpa: �Arzt erbt G ...
Die Schweiz erkennt ausländische Diplome nur aus EU- und Efta-Staaten an.Bild: DPA

Die Zahl der in der Schweiz tätigen Ärztinnen und Ärzte ohne anerkanntes Diplom steigt seit Jahren. Laut Bundesamt für Gesundheit (BAG) sind derzeit über 3100 medizinische Fachkräfte registriert. Die Schweiz erkennt ausländische Diplome nur aus EU- und Efta-Staaten an, Abschlüsse aus Drittstaaten gelten als nicht anerkennbar. Dennoch dürfen diese Medizinerinnen und Mediziner hier arbeiten, schreibt der Tagesanzeiger. So war es auch bei der zuständigen Ärztin, die im Februar 2023 die Methadontherapie für Nick verschrieben hat.

Facharzttitel war in weiter Ferne

Nach Nicks Tod stellt sich die Frage, ob die zuständige Ärztin mit ihrem nicht anerkannten Diplom eine Position übernommen hatte, der sie nicht gewachsen war. Sie hatte in einem osteuropäischen Drittstaat Medizin studiert und begann 2019 ihre Assistenzzeit in der Klinik Königsfelden. Zunächst arbeitete sie in der Alterspsychiatrie, drei Jahre später wechselte sie auf die Station für Suchterkrankungen.

Im Mai 2022 wurde sie nach nur dreieinhalb Jahren Assistenzzeit – üblich sind rund sechs Jahre – zur stellvertretenden Oberärztin befördert. Als sie Nick im Februar 2023 die Methadontherapie verschrieb, hatte sie das eidgenössische Diplom noch nicht erworben, und der Facharzttitel lag noch in weiter Ferne. Unterstellt war ihr ein Assistenzarzt aus Osteuropa, der Nick ebenfalls behandelte und ebenfalls keinen anerkannten Medizinabschluss hatte.

Die psychiatrische Klinik in Königsfelden.
Die psychiatrische Klinik in Königsfelden. bild: wikicommons/ Lukas Keller

Enormer Fachkräftemangel in der Psychiatrie

Die Schweiz ist auf ausländische Ärztinnen und Ärzte angewiesen, weil ein grosser Fachkräftemangel herrscht. Rund 40 Prozent der Medizinerinnen und Mediziner kommen aus dem Ausland. Philip Bruggmann, Co-Chefarzt beim Zürcher Suchtzentrum Arud, sagt gegenüber dem Tagesanzeiger:

«Der Fachkräftemangel ist besonders in der Psychiatrie enorm.»
Philip Bruggmann
Co-Chefarzt beim Zürcher Suchtzentrum Arud
Tagesanzeiger

Bei Stellenausschreibungen in diesem Bereich gibt es viele Bewerbungen, etwa aus Osteuropa, doch nicht alle Bewerberinnen und Bewerber verfügen über gute Deutschkenntnisse, die besonders wichtig sind in der Psychotherapie. «Trotzdem kommt es bei fehlender Auswahl zu Anstellungen», so Bruggmann.

Beschwerde gegen Klinik

Im Kanton Aargau ist eine Aufsichtsbeschwerde gegen die Psychiatrischen Dienste Aargau (PDAG) eingegangen. Die Eltern von Nick fordern über ihren Anwalt Gregori Werder eine externe Untersuchung durch medizinische und juristische Experten. Laut Beschwerde gab es im Zentrum für Suchterkrankungen personelle und organisatorische Mängel, die vermutlich zu Nicks Tod beigetragen haben.

Das Aargauer Departement für Gesundheit und Soziales erklärt gegenüber dem Tagesanzeiger, man gehe allen Hinweisen nach und eröffne bei Bedarf Aufsichtsverfahren – so auch in diesem Fall. Gegen die zuständige Ärztin läuft ein Strafverfahren wegen Verdachts auf fahrlässige Tötung. Ihr Anwalt betont, sie habe stets gewissenhaft gehandelt.

Nick hatte bereits im Gymnasium Cannabis konsumiert, später auch Benzodiazepine und Opioide, bis er Anfang 2023 mit dem Drogenkonsum aufhören wollte.

Methadontherapie kann lebensbedrohlich sein

In einem Zürcher Suchtzentrum wurde dem 22-jährigen Nick eine Opioid-Agonisten-Therapie (OAT) verweigert. Diese Therapie ersetzt illegal konsumierte Opioide durch Medikamente wie Methadon. Die Spezialisten lehnten ab, weil Nicks Urintest keine Opioide aufzeigte und er keine Toleranz hatte – eine Methadontherapie hätte in diesem Fall lebensgefährlich sein können.

Kurz darauf, als Nick wegen schwerer psychischer Probleme in die Psychiatrie Königsfelden kam, verschrieb die zuständige Ärztin die gleiche Therapie sowie hohe Dosen des Benzodiazepins Temesta – ohne einen empfohlenen Urintest durchzuführen. Eineinhalb Tage später starb Nick an einer Methadonüberdosis, deren Wirkung laut Obduktion möglicherweise durch das Temesta verstärkt wurde.

Laut dem Privatgutachten von Suchtspezialist André Seidenberg hätten erfahrene Fachärztinnen und Fachärzte die Gefahr erkennen müssen.

«Aufgrund der Unterlagen ist ein Mangel an Schulung, Vorschriften und Massnahmen bezüglich Vorsichtsmassnahmen, Überwachung und Kontrolle beim Einsatz von Betäubungsmitteln in der PDAG zu vermuten.»
André Seidenberg - Arzt und Suchtspezialist tagesanzeiger

Ärztin wurde als Kaderärztin bezeichnet

Die PDAG äussert sich nicht zum konkreten Fall. Auf Anfrage des Tagesanzeigers betont die Organisation, man halte sich an nationale und internationale Leitlinien und entwickle sich laufend weiter. Oberärztinnen und Oberärzte müssen ein anerkanntes Diplom und einen Facharzttitel haben, stellvertretende Oberärzte und Assistenzärzte arbeiten unter enger Anleitung erfahrener Fachärzte.

Im Fall von Nick gibt es daran jedoch Zweifel. Das Zentrum für Abhängigkeitserkrankungen in Königsfelden hat drei Stationen, die jeweils von Kaderärzten geleitet werden, denen Assistenzärzte unterstellt sind.

Für die Verordnung von Medikamenten trägt der Stationskaderarzt die Verantwortung, heisst es. Unterlagen zeigen, dass die stellvertretende Oberärztin genau diese Aufgabe bei Nick übernommen hat. Sie verschrieb die Therapie und die Medikamente. Ein Assistenzarzt bezeichnete sie im Ermittlungsverfahren ausdrücklich als «Kaderarzt», ebenso ein PDAG-Dokument eines Weiterbildungskonzept von 2023.

Anwalt Gregori Werder, spezialisiert auf Gesundheits- und Personalrecht, schreibt in der Aufsichtsbeschwerde Folgendes:

«Die stellvertretende Oberärztin verfügte nicht über die notwendigen Qualifikationen und Diplome, um unbeaufsichtigt eine Methadontherapie anzuordnen.»
Anwalt Gregori Werder
tagesanzeiger

Gleichzeitig gebe es in den Ermittlungsakten keine Hinweise auf eine ordnungsgemässe Aufsicht. Ihr hätte laut Werder keinerlei Verantwortung im Umgang mit Betäubungsmitteln übertragen werden dürfen.

«Vor diesem Hintergrund muss ihre Beschäftigung als rechtswidrig bezeichnet werden.»
Anwalt Gregori Werder tagesanzeiger

Da es in mehreren aussergewöhnlichen Todesfällen in Königsfelden strafrechtliche Untersuchungen gebe, sei es nötig, «den Sachverhalt endlich auch unter dem Blickwinkel der Berufspflichten der involvierten Ärztinnen und Ärzte zu betrachten». Zudem müsse geklärt werden, ob das Pflegepersonal ausreichend geschult sei, um Patienten in einer Methadontherapie korrekt zu überwachen.

Es fehlen klare Regeln

Viele Fragen werden sich erst im Strafverfahren oder durch eine unabhängige Untersuchung klären. Sicher ist: Kliniken und Spitäler haben grossen Spielraum, wie sie Mediziner ohne anerkanntes Diplom und Facharzttitel einsetzen.

Die Meinungen dazu gehen auseinander. Das Bundesamt für Gesundheit verlangt, dass sie immer unter Aufsicht arbeiten. Die PDAG sagt, sie dürften höchstens als stellvertretende Oberärzte eingesetzt werden. Das Aargauer Gesundheitsdepartement sieht sie dagegen in der Lage, «unter Berücksichtigung ihrer Kenntnisse und Erfahrungen eigenständig Entscheidungen zu treffen», solange weitreichende Entscheide mit der vorgesetzten Stelle abgesprochen werden. Die Einrichtungen müssten die Qualifikationen der Fachkräfte selbst prüfen.

Für Rechtsanwalt Gregori Werder zeigt der Fall, dass es in diesem sensiblen Bereich einen Graubereich ohne klare Regeln gibt. Den Kliniken werde viel Spielraum bei der Einschätzung der fachlichen Eignung eingeräumt.

«Wie unsere Beschwerde im Fall Königsfelden zeigt, braucht es eine Überprüfung, wie dieser genutzt wird und wie solche Fachkräfte tatsächlich eingesetzt werden.»
Anwalt Gregori Werder tagesanzeiger

(fak)

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28 Kommentare
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Gaston P. de Valcroix
20.10.2025 16:10registriert August 2025
Ich tue mich wirklich schwer damit. Unsere jungen Leute müssen sich durch einen harten Numerus Clausus kämpfen, jahrelang anspruchsvolle Prüfungen bestehen und enorme persönliche Opfer bringen, um Arzt zu werden. Und dann sieht man, wie Personen ohne gültige Diplome ins System geholt werden – mit denselben beruflichen Möglichkeiten und teils identischer Vergütung. Das ist doch eine absolute Respektlosigkeit gegenüber all jenen, die sich ihren Weg ehrlich und mühsam erarbeitet haben.
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Dr no
20.10.2025 15:44registriert Mai 2018
"Abschlüsse aus Drittstaaten gelten als nicht anerkennbar. Dennoch dürfen diese Medizinerinnen und Mediziner hier arbeiten, schreibt der Tagesanzeiger." Wieso ? Das macht doch keinen Sinn. Ich brauche eine Töffliprüfung um ein Töffli zu fahren. Aber hier lässt man es einfach schleifen ? Hallo ? Und auch hier zeigen sich die Probleme der ungebremsten Zuwanderung: Immer mehr Menschen brauchen immer mehr Ärzte.
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Nix sagen
20.10.2025 16:03registriert August 2020
Als jemand der in dieser Branche gearbeitet hat kann ich sagen, da wird sehr vieeel unter den Teppich gekehrt. In meinen 8 Jahren gab es min. 2 Fälle wo man froh war, hatte niemand Fragen gestellt weil einfach fahrlässig reagiert wurde. Die Betroffenen hatten keine Kontakte mehr zur Aussenwelt. (War im betreuten Wohnen, also Menschen mit chronischer psychischer Beeinträchtigung). Deshalb, schaut immer genau hin und stellt Fragen. Fehler gibt niemand von selbst zu.
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