Früher waren Kinder einfach Kinder. Heute sind sie die Welt. Wehe, ein Restaurant wagt es, ein Kinderwagenverbot auszusprechen. Der Sturm der Entrüstung ist ebenso zu erwarten wie die Reporter und TV-Journalisten, die den Wirt tags darauf belagern. Ganze Zeitungsseiten werden gefüllt mit Debatten darüber, wo und ob Frau in der Öffentlichkeit stillen darf. Gegen den Lärm von spielenden Kindern wird schon mal gerichtlich vorgegangen.
Auch die Frage, wie viel Vaterschaftsurlaub angemessen sei, erregt die Gemüter seit Jahren. Wie Krippen finanziert werden sollen, ebenfalls. Wo Kinder sind, da gibt es früher oder später Stunk, nicht unter den Kindern, sondern zwischen den Erwachsenen. Der Graben zwischen Kinderlosen und Kinderhabenden scheint immer grösser zu werden. Die einen finden, ihre Kinder seien ein Segen für die Gesellschaft, die anderen finden, Kinder zu haben, sei vor allem eines: Privatsache.
Die Journalistinnen Susanne Garsoffky und Britta Sembach haben ein Debattenbuch mit dem Titel «Der tiefe Riss» über den Konflikt zwischen Eltern und Kinderlosen geschrieben. Als die Autorinnen des Buches selber Kinder kriegten, stellten sie fest, dass sie kaum noch Berührungspunkte mit Kinderlosen hatten.
Aus dieser Distanz heraus entstünden gegenseitige Vorurteile und man feinde sich an. Für Kinderlose sind alle Eltern überbehütende, rücksichtslose Kinderwagenbulldozer, die ihre Kleinen zu Narzissten ohne Benehmen erziehen. Eltern hingegen halten Kinderlose für hedonistische Egoisten «no kids, but money».
François Höpflinger, emeritierter Familienforscher der Universität Zürich, hat den Graben zwischen Eltern und Kinderlosen bereits 2007 prophezeit. Der Grund: Die Zahl kinderloser Frauen wächst ständig. Haushalte mit Kindern würden zu einer demografischen Minderheit werden. Zwar dominiert laut Bundesamt für Statistik der Typ «Haushalt mit Kind(ern)» weiterhin.
Doch seit 1970 hat die Zahl der Familienhaushalte deutlich abgenommen. Während damals 70 Prozent der Bevölkerung in einem Haushalt mit Kind lebte, sind es heute nur noch 57 Prozent. Die Lebensform Familie wird je länger, je mehr vom Normal- zum Sonderfall.
Es leben proportional immer weniger Kinder in der Schweiz. «Aber sie erhalten überproportional viel Aufmerksamkeit», sagt Familiensoziologe Klaus Preisner von der Universität Zürich. Früher habe es an Hochzeiten Kindertische gegeben, nach acht Uhr sei kein Kind mehr anwesend gewesen.
Heute trauen sich Paare bei der Hochzeitseinladung kaum noch zu schreiben, dass Kinder bei der Feier am Abend nicht erwünscht sind. Eltern fühlen sich schnell angegriffen, wenn ihr Nachwuchs nicht willkommen ist. Studien hätten bewiesen, dass Eltern heute trotz doppelter Erwerbstätigkeit mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen als früher, sagt der Soziologe. Was dazu führt, dass Kinder überall hin mitgenommen werden.
Ein Grund dafür ist das schlechte Gewissen. «Die moderne Familie ist ein Teilzeitbusiness», schreiben der Psychoanalytiker Peter Schneider und die Journalistin Andrea Schafroth in ihrem Erziehungsratgeber «Cool down». Eltern gehen arbeiten, geben ihr Kind in fremde Hände und fühlen sich schlecht, was die Stellung des Kindes weiter stärkt. Kinderlose hingegen wollen nicht überall auf Kinder treffen. Sie stören sich an lauten oder herumrennenden Kindern.
Doch statt dass beide Seiten Verständnis zeigen würden, verhärten sich die Fronten schnell. Da die Eltern mit ihren unerzogenen Bengeln, dort die egoistischen Kinderlosen. «Eltern hinterfragen sich heute viel mehr als früher. Sie sind oft unsicher, was ihre Rolle betrifft, das macht sie für Kritik von aussen sehr dünnhäutig», sagt Klaus Preisner. Mit ein Grund für die oft emotionalen Diskussionen, wenn es um Fragen der Erziehung geht.
Eine weitere Ursache für die vielen Konflikte rund ums Thema Kind sehen Soziologen in der späten Elternschaft. In der Schweiz werden viele Frauen und Männer zu einem Zeitpunkt Eltern, da sie sich bereits ein privilegiertes Leben eingerichtet haben. Typische Erwachsenen-Zonen wie Restaurants, Museen, teure Hotels, Flugzeuge oder Wellnessanlagen werden plötzlich auch von Familien besucht. «Da prallen Lebenswelten und Bedürfnisse aufeinander, die konfliktanfällig sind», sagt Preisner.
Auch identifizieren sich ältere Eltern oft stärker mit ihrer Rolle. Dass es Menschen gibt, die sich bewusst für ein Leben ohne Kinder, Schokoflecken und Gebrüll entschieden haben, können sie kaum mehr nachvollziehen. Kinder zu haben, wird von Eltern als der einzige erfüllende und richtige Lebensentwurf verteidigt. Wer das anzweifelt, wer Kinder kritisiert, steht argumentatorisch mit dem Rücken zur Wand.
Daran stört sich nicht nur Sylvia Locher seit längerer Zeit. «Kinder sind heute eine private Entscheidung», sagt die Präsidentin von Pro Single Schweiz. Niemand in der wohlhabenden Schweiz habe Nachwuchs, um der Allgemeinheit etwas Gutes zu tun, vielmehr tue er sich selber einen Gefallen. «Die Kosten für Krippe, Schule, Studium können die meisten Eltern jedoch nicht einmal in Ansätzen alleine finanzieren.»
Ein Kind kostet ein Haus, lautet ein Sprichwort. Eltern geben in der Schweiz für ihr erstes Kind rund 500 000 Franken aus. Doch die Gesellschaft zahlt wacker mit. Sylvia Locher kann es nicht mehr hören, wenn ihr Familien vorhalten, dass es ohne ihre Kinder noch schlechter um die Altersvorsorge stehen würde. «Eltern haben ernsthaft das Gefühl, dass sie mit ihren Kindern im Alleingang die Gesellschaft retten.»
Der Freiburger Ökonom Reiner Eichenberger betont seit Jahren, dass es unsinnig sei, Kinder für die Altersvorsorge instrumentalisieren zu wollen. Aus den sogenannten Generationenbilanzen des Staatssekretariats für Wirtschaft geht laut Eichenberger hervor, «dass heute im Durchschnitt ein Kind über sein ganzes Leben gerechnet mehr Leistungen vom Staat erhält, als es an ihn mit all seinen Steuern und Abgaben bezahlt».
Rein finanziell betrachtet, kostet ein Kind die Gemeinschaft im Durchschnitt also mehr, als es ihr bringt. Doch wer derartige Rechnungen aufstellt, steht sehr schnell im Kreuzfeuer der Kritik. Weil er daran rührt, dass Kinder für eine Gesellschaft nicht nur eine Bereicherung, sondern auch eine Belastung sein können.
Die grundsätzliche Solidarität zwischen Familien und Kinderlosen stellt Locher nicht infrage, doch sie werde überstrapaziert. «Familien fordern immer mehr, aktuell etwa den verlängerten Vaterschaftsurlaub, aber auch günstigere Wohnungen, kostenlose Tagesschulen – bezahlen dafür soll die Allgemeinheit.» Dabei gehe vergessen, dass sehr viele Alleinstehende nicht auf Rosen gebettet seien, aber deshalb nicht speziell unterstützt würden.
Manchmal sind es gar nicht so sehr die Kinder, die als lästig oder provozierend empfunden werden, es sind vielmehr die Eltern, die dafür sorgen, dass Menschen einen Bogen um alles schlagen, was mit Kindern zu tun hat. Die dauerverzückten Mamas und Papas, deren Universen auf die Grösse eines Kinderzimmers geschrumpft sind und die jeden und jeden mit ihren Babygeschichten und Kinderfotos beglücken, sind für Kinderlose oft eine Zumutung.
Auch wollen Arbeitskollegen ungern beim Zmittag stets die gleichen Klagen über schlaflose Nächte und Pipi-Kaka-Problematiken abhören. Nicht jeder findet es zudem herzig, wenn kleine Kindern in Restaurant den ganzen Service auf Trab halten. Es zeugt von mangelndem Takt und Einfühlungsvermögen seitens vieler Eltern, sich nicht in Menschen ohne (kleine) Kinder einfühlen zu können. Einfühlungsvermögen, das sie wiederum von der ganzen Gesellschaft einfordern.