Unsere Familientradition geht so: Am 24. Dezember kommt die Verwandtschaft mütterlicherseits zusammen. Eltern, Bruder, Onkel, Tanten, Cousinen, zu ihren Lebzeiten auch die Grosseltern. Das sind – je nachdem, wer sich traut, den neuen Boyfriend oder die langjährige Partnerin mitzuschleppen – zwischen 15 und 20 Personen.
Meist treffen wir uns bei meinen Eltern, da ihr Wohnzimmer das grösste ist. Wobei es auch auf 28 Quadratmetern ziemlich eng wird mit so vielen Menschen. Das stört uns aber nicht, nein, wir finden das schön, es ist heimelig und erinnert uns an früher, daran, wie unser Omi und Opi diese Tradition begründeten und sie aufrechterhielten bis zu ihrem Tod und darüber hinaus.
Als wir das Treffen letztes Jahr absagen mussten, waren wir traurig. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich den 24. nicht im grossen Familienkreis verbrachte. Ich wusste aber, es war die richtige Entscheidung. Wir sagten uns: Lasst uns wieder zusammenkommen, wenn sich die Situation beruhigt hat.
Doch ein Jahr später ist es anders, als wir damals gedacht hatten, wieder liegen Hunderte im Spital, täglich sterben Dutzende. In unserem Familienchat diskutieren wir: Wie sollen wir dieses Jahr feiern? Ist es in Ordnung, sich mit der Grossfamilie zu treffen? Oder doch nur im kleinen Kreis? Ist das Wohnzimmer für ein Abendessen zu eng? Sollten wir uns nur draussen zum Apero an einer Feuerschale treffen?
Nach fast zwei Jahren Pandemie ist es nicht einfacher geworden, Antworten auf solche Fragen zu finden. Im Gegenteil. Ich habe vielmehr das Gefühl, ich verliere mich immer mehr in handgestrickten Einschätzungen, in pseudowissenschaftlichen Rechnereien, weil ich irgendwo mal irgendwas gelesen habe, das sich inzwischen sowieso wieder geändert hat. Vielen meiner Freundinnen und Kollegen im Büro geht es ähnlich. Wenn ich sie frage, wie sie denn das machen mit den Weihnachten dieses Jahr, werden Augen verdreht, Hände verworfen, mit Schultern gezuckt. Alle machen es irgendwie halt.
Ich stelle mir vor, was mir der Infektiologe und die Epidemiologin raten würden und höre sie in mahnendem Ton sagen: «Feiern im grossen Kreis, das ist jetzt keine gute Idee, Frau Serafini. Wir müssen Vernunft walten lassen und zugunsten unser aller Gesundheit auch dieses Jahr auf das traditionelle Beisammensein verzichten.»
Wobei «Vernunft walten lassen» ein interessantes Stichwort ist. Denn was ist heutzutage vernünftig? Erlaubt ist schliesslich alles. Ich kann dicht gedrängt in einer Bar Cocktails trinken, im eng bestuhlten Restaurant essen, im schlecht belüfteten Club tanzen. Klar, mit Zertifikat zwar, doch wie verantwortungsvoll ist das vor der Tatsache, dass die Impfdurchbrüche seit Wochen in die Höhe schnellen?
Nicht, dass ich mir als freiheitsliebende Person mehr Regeln mit strengeren Gesetzen wünsche. Doch eine Pandemiepolitik, die beflügelt durch das Wort «Eigenverantwortung» darauf setzt, dass die Leute selbst entscheiden, welchen Weg sie gehen, bringt eben auch so einiges an Schwierigkeiten mit sich. Und viele paradoxe Situationen mitsamt der Frage: Wenn ich Konzerte, Bars, und Kinos besuche, wenn ich zweimal die Woche ins Training gehe, wo ich ohne Maske während mehreren Stunden dicht auf dicht rumschwitze, wenn ich in vollgestopften Trams und Bussen fahre, wo überall Maskenpimmel hervorblitzen – wenn ich all das legal und mit Segen des BAG tun kann, soll ich dann nicht auch mit meiner Familie Weihnachten feiern können?
Ehrlich gesagt, hab ich keine Ahnung mehr, wie ich mit der Eigenverantwortung umgehen soll. Sie lastet wie eine Bürde auf meinen Schultern und stellt mich vor Entscheide, die ich je länger desto widersprüchlicher fälle.
Am Schluss entscheiden nicht ich, sondern meine Eltern, Onkel und Tanten: Es ist ihnen zu unsicher. Nicht alle sind geboostert, wir wären zu viele auf zu engem Raum, einige würden sich so nicht wohlfühlen. Wir blasen es ab, das Weihnachtsfest fällt auch dieses Jahr ins Wasser.
Ich werde also am 24. im kleinen Kreis feiern, zu viert, was auch schön ist. Trotzdem tut der Entscheid weh, irgendwie. Es ist eine Familientradition, die uns seit vielen Jahren zusammenhält. Und nun wird sie schon das zweite Jahr in Folge gebrochen. Mein Kopf sagt mir, dass dies eine vernünftige und verantwortungsvolle Entscheidung ist. Und doch fühlt es sich falsch an.
Da wir e keine grosse Familie sind, liegt mir zwar nicht Weihnachten selbst auf dem Magen sondern der Besuch beim Gottibueb nach Weihnachten.
Die Eltern Schwurbler, daher nicht geimpft, testen kommt nicht in Frage da Corona ja nur eine normale Grippe ist… Nicht hingehen wird mir übel genommen und sich draussen treffen sei keine Alternative.
Ach ich hätte nie gedacht, dass eine Pandemie Freundschaften so belastet.