Wer tritt als Nächstes aus dem Bundesrat zurück? So lautet eine Lieblingsfrage in Bundesbern, nicht zuletzt unter Medienleuten. Doris Leuthard (CVP) als Amtsälteste galt als Anwärterin Nummer eins, gefolgt von Johann Schneider-Ammann (FDP). Seinen Parteikollegen Didier Burkhalter hatte kaum jemand auf der Rechnung. Umso überraschter wurde sein Rücktritt zur Kenntnis genommen.
«Ich habe einfach Lust, etwas anderes zu machen», sagte der 57-jährige Neuenburger vor den Medien. Das Bedürfnis sei plötzlich gekommen. Burkhalter sprach von einer «Welle». Den Entscheid habe er am letzten Sonntag gefällt. Man kann es auf den ersten Blick nachvollziehen. Er ist in einem Alter, in dem man noch einmal einen Neuanfang riskieren kann.
So richtig abkaufen mag man ihm diese Begründung trotzdem nicht. Vielmehr drängen sich zwei Interpretationen für seinen Abgang auf. Beide hängen zusammen mit dem institutionellen Rahmenabkommen, über das derzeit mit der Europäischen Union verhandelt wird. Von ihm hängt die Weiterentwicklung des bilateralen Weges ab. Doch die Diskussion ist blockiert.
Weil das Abkommen selbst in seiner Partei wenig Rückhalt geniesst, wirkte Burkhalter zunehmend isoliert. Er war in den letzten Monaten kaum noch präsent. Seine Nicht-Kommunikation sorgte in Bern zunehmend für Unmut. Auch im Bundesrat scheint der Geduldsfaden gerissen zu sein. Dafür spricht die am Wochenende in den Medien kolportierte Aussage von Bundespräsidentin Doris Leuthard, sie wolle beim Rahmenabkommen vorwärts machen.
Didier Burkhalter lieferte an seiner Medienkonferenz selber einen Hinweis in diese Richtung: Er habe seinen Rücktritt nicht nach der Bundesratssitzung vom nächsten Freitag angekündigt, weil er den Entscheid nicht mit der traktandierten Diskussion über die Europapolitik verknüpfen wollte.
Die positive Interpretation lautet deshalb: Burkhalter macht mit seinem Abgang den Weg frei für einen Neustart im Europa-Dossier. Dieses werde sich aber kaum in die Richtung entwickeln, die er sich wünsche, sagte der Aussenminister. Ein Wechsel im Bundesrat werde möglicherweise eine ganz neue Dynamik hinein bringen: «Das Spiel ist offen.»
Es gibt aber auch eine weniger schmeichelhafte Auslegung: Der Neuenburger Freisinnige ergreift angesichts der verfahrenen Lage die Flucht. Es wäre nicht das erste Mal. Nach seiner Wahl in den Bundesrat übernahm er 2009 von seinem Vorgänger Pascal Couchepin das Departement des Innern. Nach nur etwas mehr als zwei Jahren wechselte er ins Aussendepartement.
Der rasche Abgang wurde von Medien und Politik als Flucht vor dem Reformstau im Sozial- und Gesundheitswesen interpretiert. Tatsächlich war Burkhalter in seiner kurzen Amtszeit im EDI wenig gelungen. Die Revision der beruflichen Vorsorge wurde vom Stimmvolk wuchtig versenkt, die 11. AHV-Revision scheiterte in der Schlussabstimmung im Parlament.
Als Aussenminister machte Didier Burkhalter eine gute Figur, nicht zuletzt als die Schweiz 2014 die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) präsidierte. Seine Performance wurde von den Medien allerdings etwas überhöht geschildert.
Mehr Mühe hatte er mit diplomatischer Knochenarbeit, insbesondere gegenüber der EU. Bei der Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative nervte er mit seinem penetranten Optimismus. Eine Einigung mit Brüssel kam nicht zustande, die Schweiz musste sie einseitig umsetzen. Der Abgang des glücklosen Staatssekretärs Yves Rossier, den er aus dem EDI «mitgebracht» hatte, war kein Ruhmesblatt.
Die Grossbaustelle Rahmenabkommen überlässt er seinem Nachfolger – oder seiner Nachfolgerin. Denn Burkhalters Rücktritt könnte eine Chance sein für Simonetta Sommaruga (SP), das ungeliebte Justizdepartement hinter sich zu lassen. Sie hat genügend Erfahrungen im Verhandeln auf europäischer Ebene gesammelt – und im politischen Nahkampf mit der SVP.
Wer auch immer das Aussendepartement übernimmt: Didier Burkhalters Rücktritt ist tatsächlich eine Chance, um neuen Schwung in die verfahrenen Beziehungen mit der EU zu bringen. Ob Flucht oder nicht: Der FDP-Bundesrat hätte der Schweiz damit einen Gefallen getan.