Wie das Walliser Saastal seine Männer verlor – und bis heute darüber schweigt
Bis weit ins 20. Jahrhundert war das Saastal, was es topografisch bis heute ist: eine Sackgasse. Zumindest wirtschaftlich.
Jahrhundertelang schmuggelten Bauern Waren über die Alpen, pflanzten Karotten und gruben Kartoffeln aus. Auf einer Höhe von 1600 Metern musste alles in kurzer Zeit wachsen. Die Menschen im Tal hielten Geissen und bauten Roggen an. Zweimal im Jahr backte die Dorfbäckerei. Im Winter hackten Saaser Familien das vertrocknete Brot und warfen es zusammen mit Knochen und Käserinde in einen Suppentopf.
Bis zum Zweiten Weltkrieg versorgten sich die Saaserinnen und Saaser auf ihren Alpwirtschaften selbst. Doch immer wieder rollten Lawinen ins Tal. Mehrfach brach der See des Allalingletschers durch und riss mit sich, was die Menschen zum Leben brauchten. Ein Mann nach dem anderen packte sein Bündel. Manche zogen über den Monte-Moro-Pass nach Italien – andere suchten ihr Glück in den Tunneln.
Tunneljahre: Als Maurer riskierten sie ihr Leben
80 Jahre später weiss man noch immer wenig über die Saaser Lohngänger. Es ist August 2025. Ein Postbus fährt vor, die letzten Wandersleute steigen ein. Abseits der Hauptstrasse liegt die übliche Stille über Saas-Grund. Auf dem Friedhof in Sichtweite der Strasse tupft eine Frau mit dem Schwamm ein Grab ab. Über die Männer, die das Saastal verliessen, wisse sie nichts. Sie erinnere sich nur an die Katastrophe von Mattmark, als vor sechzig Jahren eine Lawine 88 Menschen unter sich begrub.
Der evangelische «Tourismuspfarrer» Christoph Gysel weiss mehr. Er öffnet die Tür zum Kulturzentrum und lässt sich auf einen Stuhl sinken. Seit 40 Jahren gräbt er nach Geschichten aus dem Saastal, steigt in die Archive, predigt auf Youtube und hält Gästegottesdienste. Gysel sagt: «Wer kräftig und gesund war, der ging.»
Bis in die 1960er Jahre verliessen die Saaser ihr Tal und wurden zu Saisonniers im eigenen Land, erzählt Gysel. Zurück blieben Grosseltern, schwache Menschen, Kinder und Frauen. Die Männer gingen, als Schnee und Eis schmolzen, und kamen zurück, als der Winter anbrach.
In den Tunneln trug niemand Stahlkappen an den Schuhen. Niemand schützte die Lunge mit einer Maske. Und dennoch sprengten Hunderte Arbeiter die Stollen frei und hauten Eisenbahnröhren in den Berg. Zwanzig Kilometer tief in den Berg frassen sie sich hinein, wie beim Simplon-Durchstich 1906. Eine «phänomenale» Pionierleistung, die Spuren hinterliess, sagt Gysel.
Der Pfarrer nennt die Tunnelarbeit «eine fürchterlich ungesunde Geschichte». Die Männer bohrten sich durch trockenes Gestein und atmeten Rauch und Feinstaub ein. Nach der «brutalen» Arbeitsschicht kehrten sie abends zurück in überfüllte Baracken oder Alphütten. Das Gift spürten sie erst später, als sie zu husten begannen. Diagnose: Tuberkulose.
Rückkehr: Die Männer geraten ins Abseits
Als die Männer heimkehrten, staunten sie: «Die Frauen hatten alles im Griff», sagt Gysel. Sie heuten im Sommer, gruben die Gärten um, kümmerten sich um die Kinder und unterhielten kleine Gästebetriebe.
Einige Männer fühlten sich überflüssig, ergänzt Pfarrer Gysel. Ihre Beziehung zur Familie habe sich abgekühlt. «Manche sind im Restaurant hängen geblieben und haben ihren Jahreslohn versoffen», sagt er. Zum Beweis verlässt er das Kulturzentrum und öffnet die angrenzende Dorfkneipe von Saas-Grund. Gysel zeigt auf einen Anbau. Dort habe ein Mann derart viele Trinkschulden angehäuft, dass er zwei Quadratmeter seines Hauses an den Wirt abtreten musste.
Kurt Regotz bestätigt Gysels Geschichten. Regotz sass von 1981 bis 2016 dem Christlichen Holz- und Bauarbeiterverband und später der Gewerkschaft Syna vor. Er weiss: Auf Oberwalliser und ausserkantonalen Baustellen kreisten am Feierabend die Flaschen. Andere Möglichkeiten, sich von der Knochenarbeit abzulenken, habe es kaum gegeben. «Zurück im Saastal wurden die Männer sicherlich nicht abstinent», sagt Regotz.
In vielen Saaser Familien spielten sich Tragödien ab, «wenn die Männer nicht mehr in Gang kamen», wie Pfarrer Gysel sagt. Sie fanden ihre Rollen nicht mehr, verschlossen sich: «Hier hat es weniger eine Emanzipation unter Frauen gebraucht, als eine unter Männern.»
Gysel vermutet, dass auch die Suizidrate anstieg. Wenn sich der Vater das Leben nahm, verschwieg das die jeweilige Saaser Familie. Im erzkatholischen Wallis galt der Suizid als Frevel: «Das wurde unter die Tische gekehrt», sagt der Pfarrer. «Für die Frauen und Kinder war es doppelt brutal. Erst verloren sie den Vater, dann mussten sie mit der Schuld des Suizids leben.»
Belege für diese Aussagen finden sich nicht. Der Theologe und Historiker Stefan Furrer sagt: «Das Thema Suizid im Saastal ist bislang unerforscht.» Er weiss von einzelnen Walliser Gemeinden, deren Suizidraten auffielen. Die Zahlen aus dem Saastal kenne er nicht. Erst im kommenden Jahr wird er dessen Kirchenarchive durchforsten.
Widerstandskraft: Sie richten sich auf, immer wieder
Für André Zurbriggen passt die Suizid-These nicht ins Bild der damaligen Zeit. Er präsidiert den Kulturverein «Saas ischi Heimat». Zurbriggen weiss, wie sein Vater – Jahrgang 1915 – und der Grosspapi im Saastal aufwuchsen. «Die Menschen waren strenggläubig und begriffen den Suizid als eine der schlimmsten Sünden neben Mord.» Von Suiziden im Tal habe er noch nie gehört.
Die Menschen im Saastal lernten, mit Lebenskrisen umzugehen, sagt Zurbriggen. Ihnen eilte der Ruf voraus, feinste Risse in Steinen zu erspüren und hervorragende Maurer zu sein. Autodidaktisch eigneten sie sich an, wie man Natursteine versetzt. Sie bauten in den 1950er Jahren die Grand Dixence-Staumauer und den Marmorera-Staudamm und waren auch auf dem Grimsel-, Susten- und Klausenpass tätig. Sie prägten das, was man heute «Saasermauern» nennt.
Tabu: Still schweigt das Tal
In einem Punkt bestätigt Präsident Zurbriggen Gysels Sicht: Die Folgen der Tunnelarbeit waren gravierend. Viele Saaser starben frühzeitig an Staublungen, etwa als sie von Staudämmen zurückkehrten oder den Tunnel von Saas-Balen nach Stalden gruben. Auch Zurbriggens Onkel litt unter «heimtückischen Asbestadern und Feinstaub.» Die Menschen hatten keine Wahl: «Um Geld zu verdienen, mussten sie in den Tunnel.» Zurbriggen habe seine Eltern nie jammern hören: «Es war ihr Schicksal.»
Pfarrer Gysel kritisiert diese Schicksalsergebenheit. Einige Saaserinnen und Saaser liessen noch heute die Traumata lieber «herauswachsen». Insbesondere die Männer hätten nie eine Sprache für ihren Schmerz gefunden. Aus Gysels Sicht herrscht im Saastal Stille über diese «Massenverzweiflung»: Die Älteren verschwiegen das Leid und «die Jungen leben extrem im Jetzt». Sie wollen den Wohlstand geniessen – und verdrängen, worauf er beruht.
Die Verschwiegenheit erschwert es, die Vergangenheit aufzuarbeiten. Hinzu kommt, dass es an Daten fehlt. Das stellt Historikerinnen wie Elisabeth Joris aus Visp vor «Riesenprobleme»: Sie muss sich auf mündliche Überlieferungen verlassen. Bislang ist es Privatfirmen erlaubt, ihre Archive geschlossen zu halten. So blieb Joris die Akteneinsicht verwehrt, etwa im Zürcher Unternehmen Elektrowatt, das Kraftwerke wie den Staudamm von Mattmark finanzierte. Sie sagt: «Werden diese Firmen aufgelöst, sollten sie ihre Akten konservieren und ins Wirtschaftsarchiv geben.»
Die Historikerin ist auf Besitzerfamilien angewiesen, die ihre Forschung zulassen. Das passiert selten. So bleibt unklar, wie viele Saaser in den Tunneln arbeiteten und am Staub starben.
Klar ist: Nach dem Stollenbau zwischen Saas-Balen und Stalden lag die Witwenzahl ab den 1960er Jahren in diesen Dörfern höher als im Schweizer Durchschnitt. Die meisten heirateten nicht noch einmal.
Ex-Gewerkschafter Regotz kritisiert: Die Stollenbetreiber und die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt hätten die Staublunge lange nicht als unmittelbare Berufskrankheit anerkannt. «Die Männer konnten kaum atmen. Vielleicht griffen dann einige zum Alkohol, um ihr Leid zu lindern.»
Lehren: Wenn die Erinnerung verblasst
1951 wurde Saas Fee durch die Saastalstrasse erschlossen. Mit ihr kam der Massentourismus ins Tal. Doch noch zwanzig Jahre nachdem der Aufschwung eingesetzt hatte und die Armut abnahm, wanderten die Männer aus, um Arbeit zu finden.
Pfarrer Gysel stützt sich auf seinen Gehstock. Er will aus der Geschichte der Lohngänger lernen. Der Bau der Tunnel und Staudämme brachte zwar schnellen Profit. Dennoch solle man auch heute darüber nachdenken, wo und wie Menschen bauen oder wann sie sich besser zurückziehen. Immerhin führte die Not der Saaser ab den 1970er Jahren zu einem strengeren Berufsschutz. Die Unfallversicherung Suva erkämpfte ein Verbot des Trockenbohrens, bei dem gefährlicher Staub aufgewirbelt wird, und warb immer erfolgreicher dafür, Frischlufthelme mit eingebauten Filtern zu tragen.
Bald führt Gysel wieder eine Schulklasse durch das Pfarrhaus in Saas-Grund: «Ich hoffe, die nächste Generation wird vermehrt fragen, wie ihre Vorfahren gelebt haben.» Vielleicht staunen sie über die technischen Leistungen oder wie die Menschen Gletscherabbrüchen und Lawinen trotzten. Vielleicht fragen sie sich wie Gysel: «Warum haben wir nie die Toten gezählt, die in den Tunneln starben?»
Noch heute gefährden Steinschläge und Murgänge die Saasstrasse, die Lebensader des Tals. 2030 soll man deshalb durch einen Tunnel ins Saastal gelangen. Er soll schützen – vor Staub, Eis und Fels.