Hol dir jetzt die beste News-App der Schweiz!
- watson: 4,5 von 5 Sternchen im App-Store ☺
- Tages-Anzeiger: 3,5 von 5 Sternchen
- Blick: 3 von 5 Sternchen
- 20 Minuten: 3 von 5 Sternchen
Du willst nur das Beste? Voilà:
Seit zweieinhalb Jahren ringt die politische Schweiz um die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative, die am 9. Februar 2014 mit 50,3 Prozent Ja angenommen wurde. Nun schlägt die Stunde der Wahrheit: Ab 15 Uhr berät der Nationalrat über die «Steuerung der Zuwanderung und Vollzugsverbesserungen bei den Freizügigkeitsabkommen», wie die Vorlage offiziell heisst. Worum geht es, und was ist zu erwarten?
Die staatspolitische Kommission des Nationalrats hat einen «Inländervorrang light» beschlossen. In erster Priorität soll der Bundesrat dafür sorgen, dass das inländische Arbeitskräftepotenzial besser genutzt wird. Genügt dies nicht, kann er den Arbeitgebern eine Meldepflicht für offene Stellen verordnen. Zusätzliche Massnahmen zur Einschränkung der Zuwanderung wären nur mit Zustimmung der EU möglich.
Mit dieser Lösung, die massgeblich vom Solothurner FDP-Nationalrat Kurt Fluri entworfen wurde, will die Kommission verhindern, dass die Schweiz bei der MEI-Umsetzung das Abkommen zur Personenfreizügigkeit verletzt. Eine Übereinkunft mit der EU wäre nicht mehr notwendig. Die SVP und auch Staatsrechtler kritisieren, die Vorlage verstosse gegen den Verfassungsartikel 121a, der Kontingente, Höchstzahlen und einen Vorrang «für Schweizerinnen und Schweizer» vorschreibt.
SP und Grüne unterstützen den Vorschlag der Kommission, ebenso BDP und Grünliberale. Die FDP bekräftigte nach ihrer Fraktionssitzung vom Dienstag, sie stehe «nach wie vor» hinter dem Beschluss der Kommission. Die SVP beharrt auf einer konsequenten Umsetzung ihrer Initiative. Die CVP fordert eine verschärfte Vorlage. So soll der Bundesrat auch ohne Zustimmung der EU befristete Massnahmen beschliessen können, beschränkt auf bestimmte Regionen und Berufsgruppen.
Einzelne
Parlamentarier könnten aus der Parteilinie ausscheren, insbesondere
bei FDP und CVP. Der Zürcher FDP-Nationalrat Hans-Peter Portmann hat
für eine konsequente Umsetzung der MEI plädiert und einen
entsprechenden Antrag eingereicht. Die Fraktion hat die Vorlage
jedoch zum strategischen Geschäft erklärt, Portmann kann sich
höchstens enthalten. Die CVP verhält sich gleich. Dort opponieren
die Westschweizer Nationalräte Guillaume Barazzone (GE) und Claude
Béglé (VD) laut Tages-Anzeiger gegen ihre Partei. Sie
lehnen die Verschärfung ab.
Die meisten Beobachter des Berner Politbetriebs gehen davon aus, dass der Vorschlag der Kommission im Plenum durchkommen wird. Bleibt es in den Reihen von FDP und CVP bei einzelnen Abweichlern, ist dies angesichts der Mehrheitsverhältnisse sehr wahrscheinlich. Andernfalls droht eine unheilige Allianz von SP und SVP und damit ein Scheitern der Umsetzungsvorlage.
Obwohl das Resultat absehbar ist, dürfte es eine sehr lange Debatte werden. Die Abstimmung wird erst im Verlauf des Abends stattfinden. Hauptgrund ist die Live-Übertragung im Fernsehen. Parlamentarier können der Versuchung selten widerstehen, eine solche Gelegenheit zu nutzen und sich vor laufender Kamera in Szene zu setzen.
Eine eigenartige Rolle bei der MEI-Umsetzung spielen die Wirtschaftsverbände. Der Schweizerische Gewerbeverband, der sonst gerne eine harte Linie einnimmt, plädiert für den «Inländervorrang light». Arbeitgeberverband und Economiesuisse hingegen unterstützen den Verschärfungsantrag der CVP. Sie haben lange auf einen bürgerlichen Schulterschluss gehofft.
Nachdem dies nicht geklappt hat, soll die SVP gemäss «Tages-Anzeiger» zumindest davon abgehalten werden, eine Volksinitiative zur Kündigung der Personenfreizügigkeit zu lancieren. Dieser harte Kurs stösst laut NZZ auf Widerstand. Man wolle keine offene Konfrontation mit Brüssel riskieren. Auch Interpharma, der Dachverband der mächtigen Pharmaindustrie, ist gegen einseitige Massnahmen.
In Brüssel verfolgt man die Debatte in der Schweiz mit Skepsis. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker äusserte sich nach dem Treffen mit Bundespräsident Johann Schneider-Ammann am Montag in Zürich ziemlich unverblümt. Man sei noch nicht «auf einem grünen Zweig» angelangt. Konkret verlangt Brüssel laut Medienberichten, dass in der Schweiz lebende EU-Bürger bei der MEI-Umsetzung nicht diskriminiert werden. Dies soll Schneider-Ammman zugesichert haben.
Weiter will Brüssel verhindern, dass die Schweiz am so genannten Gemischten Ausschuss vorbei Massnahmen ergreift. Die EU verknüpft deshalb eine Einigung bei der Personenfreizügigkeit mit einem institutionellen Rahmenabkommen. Dieses gilt in der Schweiz jedoch derzeit als chancenlos. Der «Inländervorrang light» basiert nicht zuletzt auf diesen Überlegungen. Unklar ist, wie die EU reagieren wird, falls die Schweiz eine einseitige Umsetzung beschliesst.
Eine Nebenrolle – allerdings keine unwichtige – spielen in dieser Debatte die Kontingente für Zuwanderer aus Drittstaaten ausserhalb der EU. Der Bundesrat hat sie nach dem Ja zur Zuwanderungsinitiative gekürzt. Nun sind die entsprechenden Kontingente für 2016 bereits ausgeschöpft, zum Leidwesen vieler Unternehmen. Sie beklagen, dass sie keine hochqualifizierten Arbeitskräfte aus den USA oder asiatischen Ländern mehr rekrutieren können.
Ein weiterer Nebenschauplatz ist die Erweiterung der Personenfreizügigkeit auf Kroatien. Nach dem MEI-Ja hat der Bundesrat das bereits ausgehandelte Protokoll auf Eis gelegt. In diesem Frühjahr hat es Staatssekretär Mario Gattiker in Brüssel unterzeichnet, das Parlament hat die Ratifizierung jedoch von einer Einigung mit der EU bei der Zuwanderung abhängig gemacht.
Darüber ärgern sich Vertreter von Wissenschaft und Forschung, denn die EU will die Schweiz nur als vollwertigen Partner im Forschungsprogramm Horizon 2020 akzeptieren, wenn sie das Kroatien-Protokoll bis zum 9. Februar 2017 ratifiziert. Der Druck auf das Parlament ist entsprechend gross. Bildungsminister Schneider-Ammann hat am Montag in Zürich ungeniert die Ratifizierung gefordert. Es ist absehbar, dass das Parlament diesen Schritt auch dann beschliessen wird, wenn die Zuwanderungsinitiative ohne Einigung mit der EU umgesetzt wird.
Nach dem Nationalrat ist die kleine Kammer am Zug. Die staatspolitische Kommission des Ständerats wird die Vorlage am 10. Oktober behandeln. Die Debatte im Plenum wird in der Wintersession stattfinden. CVP-Präsident Gerhard Pfister hofft, dass der Ständerat für die Verschärfungsanträge seiner Partei offener ist als der Nationalrat. Dies ist jedoch wenig wahrscheinlich. Die wirtschaftsstarken Kantone dürften eine sanfte Umsetzung fordern.
Erklärtes Ziel des Parlaments ist die Verabschiedung der Vorlage in der Schlussabstimmung am 16. Dezember. Gegen einen «Inländervorrang light» könnte die SVP das Referendum ergreifen. Dies gilt beim heutigen Stand jedoch als wenig wahrscheinlich, da sie damit kaum etwas gewinnen kann. Bei einem Ja würde das Stimmvolk seinen Entscheid vom 9. Februar 2014 relativieren, bei einem Nein würde vorerst alles so bleiben, wie es heute ist.