Reicht es oder reicht es nicht? Für viele Jugendliche ist der Weg ins Gymnasium eine Nervenprobe. Vornoten, Aufnahmeprüfung, das bange Warten auf den Entscheid. Für Rahel* (16) kam jedoch noch eine ganz andere Hürde dazu: Die Sozialbehörde in ihrer Wohngemeinde Kerns OW wollte ihr den Besuch der Mittelschule verbieten, wie der Beobachter schreibt. Grund: Rahels Familie bezieht Sozialhilfe.
Ein Kind von Sozialhilfebezügern müsse «mit der Ausbildung baldmöglichst ein existenzsicherndes Existenzminimum erzielen», teilte die Behörde der eritreischen Familie in einer schriftlichen Verfügung mit. Und legte Rahel nahe, eine Lehre als Kauffrau oder Fachfrau Gesundheit zu absolvieren. Für den Fall, dass sich das Mädchen widersetzt, sollten der Familie die monatlichen Gelder um 400 Franken gekürzt werden.
Erst nach der Intervention eines Anwalts und einem monatelangen juristischen Hickhack krebste die Behörde zurück und hob das Schulverbot auf, wie der «Beobachter» weiter schreibt. Rahel geht nun in die Kantonsschule in Sarnen. Denn ihre schulischen Leistungen reichten nicht nur für den Besuch der Fachmittelschule, sondern gar für den Übertritt ins anspruchsvollere Gymnasium.
Der Fall sorgt für Aufsehen, allerdings war das Vorgehen des Kernser Sozialamts wohl rechtens. Corinne Hutmacher-Perret, wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS), bestätigt auf Anfrage: «Es liegt im Ermessen der Gemeinde zu entscheiden, ob die Sozialhilfe eine höhere Schulausbildung einer jungen Sozialhilfebezügerin finanzieren soll oder nicht.» Eine nationale Gesetzgebung existiert nicht. Und die – nicht bindenden – SKOS-Richtlinien lassen diesen Punkt offen.
Zwar ist in den Richtlinien nachzulesen, die «nachhaltige berufliche Integration» junger Erwachsener habe höchste Priorität. Die Betroffenen sollen eine Erstausbildung abschliessen, die «ihren Fähigkeiten entspricht». Welche Voraussetzungen Jugendliche mitbringen müssen, damit ihnen eine Ausbildung am Gymnasium und ein anschliessendes Studium finanziert wird, kann jedoch jede Gemeinde selber festlegen.
So steht es den Sozialämtern offen, die Leistungen während der Ausbildung an Auflagen zu knüpfen – «etwa an einen genügenden Notenschnitt», wie die SKOS-Expertin weiter ausführt. Auf diese Weise lasse sich von Semester zu Semester neu evaluieren, ob sich die Investition lohnt. Auch gelte es abzuklären, ob ein Jugendlicher neben dem Gymnasium arbeiten und so etwas zur Finanzierung beitragen kann.
Grundsätzlich stelle sich SKOS auf den Standpunkt, dass die höhere Schulbildung im Sinne der Chancengleichheit auch für Sozialhilfebeziehende offen sein muss, hält Hutmacher-Perret fest.
Eine Umfrage von watson bei den Sozialämtern verschiedener Städte zeigt, dass dieses Prinzip weitgehend unbestritten ist. Auf Schulverbote angesprochen, winken sämtliche Gesprächspartner ab: «Wer die Aufnahmekriterien erfüllt, kann das öffentliche Gymnasium besuchen, auch wenn die Familie Sozialhilfe bezieht», sagt Gaby Reber, stellvertretende Leiterin des Sozialamtes der Stadt Bern. «Ich sehe keinen Grund, warum das Sozialamt Jugendlichen Steine in den Weg legen sollte.» Im Gegenteil habe die Sozialhilfe ein Interesse an einer möglichst guten Ausbildung der Kinder von armutsbetroffenen Familien.
In den meisten Fällen haben Personen aus wirtschaftlich benachteiligten Familien Anspruch auf Stipendien. Die Sozialhilfe kommt nur ergänzend zum Zug, wenn alle anderen Finanzierungsmöglichkeiten ausgeschöpft sind – dazu zählen auch Darlehen, Beiträge aus Fonds und Unterhaltsbeiträge der Eltern.
Das Geld sei auf jeden Fall gut investiert, meint Johannes Enkelmann von den Sozialen Diensten in Aarau: «Wenn die öffentliche Hand einer Sozialhilfebezügerin die Mittelschule finanziert und danach allenfalls noch ein Studium, dann sind die Chancen intakt, dass sie einen lukrativen Job findet und zu einer guten Steuerzahlerin wird. Dann zahlt sich das doppelt und dreifach aus.»
Der Grundgedanke sei, dass unterstützte Personen weder besser noch schlechter leben sollen als andere Menschen in finanziell bescheidenen Verhältnissen. «Das heisst zum Beispiel, dass Studierende keine eigenen Luxusgeschichten wie eigene Wohnungen erhalten, sondern bei ihren Eltern leben – hier sind wir streng.» Auch dürfe erwartet werden, dass die Studenten neben der Uni einer Arbeit nachgehen.
Bei der Wahl des Studienfachs könne das Sozialamt ein Wörtchen mitreden, so Enkelmann weiter. «Wenn jemand 20 Semester Kunstgeschichte studieren will, sind wir darüber nicht sehr glücklich. Sinnvoller ist ein Studiengang wie Informatik oder Jus mit besseren Verdienstchancen.»
In Zürich kann das Studium ebenfalls mit Auflagen verbunden sein, wie Muriel Wolf, Sprecherin der Sozialen Dienste, sagt. In jedem Fall sei die Ausbildung «zügig» zu absolvieren. Klar ist laut Wolf jedoch, dass die Erstausbildung – dazu gehört auch der Abschluss einer Hochschule – die wichtigste Grundlage ist, damit junge Erwachsene nachhaltig in den Arbeitsmarkt integriert werden können.
Fakt ist, dass Jugendliche aus sozial benachteiligten Verhältnissen an Gymnasien und Universitäten heute deutlich untervertreten sind – unabhängig davon, ob ihre Eltern Sozialhilfe beziehen oder nicht.
So kam eine Studie im Auftrag der Zürcher Bildungsdirektion 2013 zum Schluss, dass im Langzeitgymnasium 92 Prozent der Schüler aus «privilegierten» oder «eher privilegierten» Familien stammen. Aus «eher benachteiligten» Verhältnissen kommen 8 Prozent, Schüler aus «benachteiligten» Familien werden keine ausgewiesen. In der Sek B ist das Verhältnis beinahe umgekehrt:
Welche Mehrkosten der öffentlichen Hand entstehen, wenn Schüler statt einer Lehre das Gymi machen und dadurch länger kein eigenes Einkommen erwirtschaften, lässt sich nicht beziffern. Denn die Sozialhilfeleistungen für junge Erwachsene unterscheiden sich von Kanton zu Kanton stark, genauso wie die Stipendienregelungen.
Die SKOS veranschlagt den Grundbedarf für eine unter 25-jährige Person, die allein lebt, auf 789 Franken. Manche Kantone unterschreiten diesen Wert allerdings deutlich. So gibt es im Wallis für junge Erwachsene nur 500 Franken monatlich und in Genf gar nur 457 Franken. Leben die Auszubildenden noch bei den Eltern – was von jungen Sozialhilfe-Empfängern grundsätzlich erwartet wird – gibt es eine Pauschale für die ganze Familie. In dem Fall fallen die Ansätze deutlich tiefer aus.
Der Sozialdienst in Kerns will sich aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht im Detail zum Fall Rahel äussern.
Grundsätzlich solle eine Ausbildung dem Kind erlauben, «seine vollen Fähigkeiten zum Erlangen der finanziellen Unabhängigkeit zu nutzen», hält Gemeindeschreiber Roland Bösch fest. Das in der Bundesverfassung verankerte Recht auf freie Berufswahl statuiere jedoch «weder gegenüber den Eltern noch gegenüber dem Staat ein Recht auf Finanzierung jeglicher Ausbildung, frei nach den Wünschen des Kindes».
Bei der Wahl des Ausbildungswegs gelte es «die Angemessenheit staatlicher Unterstützung im Auge zu behalten», so Bösch. «Kann beispielsweise ein Berufsziel durch eine Berufslehre mit Berufsmaturität ebenso erzielt werden wie durch den Besuch einer Fachmittelschule, ist in der Regel die erste Option vorzuziehen.»
Um diesen Entscheid ging es laut dem Gemeindeschreiber auch im aktuellen Fall: Der Sozialdienst stellte sich auf den Standpunkt, dass Rahel ihren Wunschberuf im Gesundheitsbereich mit einer Lehre erreichen kann und dafür keinen Abschluss an einer Fachmittelschule benötigt. Den Wunsch, ins Gymnasium zu gehen, habe das Mädchen erst im Laufe des Verfahrens konkret geäussert.
*Name geändert