Mona Vetsch und eine Rentnerin erobern die Herzen – doch die Geschichte hat einen Haken
Nachdenklich blicken Mona Vetsch und Rentnerin Monika S. vom Balkon und beobachten die vorbeifahrenden Züge. Letztere äussert zum wiederholten Male in der Sendung ihren grössten Wunsch: «Es wäre schön, in so einem Zug zu sitzen und die Schweiz zu bereisen.» Es ist die letzte Szene von «Mona mittendrin», das vergangene Woche im SRF ausgestrahlt wurde.
Die Geschichte von Rentnerin Monika S. ist herzzerreissend. Die 75-Jährige erzählt bei Vetsch, wie sie in die Armut abgerutscht ist und wie sie sich heute im Supermarkt bücken muss, da sich die günstigsten Lebensmittel im untersten Regal befinden. Sie habe lange hart gearbeitet, aber trotzdem Schulden angehäuft, weil sie die Heimkosten ihres Mannes nicht habe bezahlen können, sagt die Rentnerin.
69'000 Franken via Crowdfunding
Mit dieser Geschichte erobern Vetsch und die Rentnerin die Herzen der Schweizerinnen und Schweizer. Der Zürcher Werber Parvez Sheik Fareed ruft ein Crowdfunding ins Leben, um Geld für ein Seniorinnen-GA zu sammeln.
Die Aktion ist ein voller Erfolg: 1200 Personen spenden insgesamt 69'100 Franken, womit die 75-Jährige nicht nur ihre Schulden begleichen, sondern ihren grössten Traum erfüllen kann: Einmal im Speisewagen der SBB die Schweiz bereisen und ein Glas Rotwein trinken. Über das erfolgreiche Crowdfunding berichten zahlreiche Zeitungen, auch watson macht eine Meldung.
Die Geschichte ist gut. Sie berührt. Doch sie hätte auch anders erzählt werden können. Wohl werden müssen.
Was die Rentnerin bei SRF sagt
Doch von vorne. Vetsch begegnet der Seniorin zufällig bei einer Essensausgabe von «Tischlein deck dich» im zürcherischen Dietikon. Der Verein verteilt Essen an armutsbetroffene Menschen.
«Ich bin insolvent, sie haben mir die Pensionskasse gepfändet», sagt die Rentnerin zu Beginn des Gespräches mit Vetsch. Ihr Mann sei vor zwei Jahren verstorben, jetzt müsse sie seine Heimkosten zurückzahlen.
Die SRF-Moderatorin fragt nach: «Hatten Sie Schulden, oder warum wurde die Pensionskasse gepfändet?» Die Rentnerin antwortet: «Vom Spital, Pflegeplatz.» Sie habe ihren Mann ins Pflegeheim bringen müssen. «Ich habe ihn 16 Jahre gepflegt und zuletzt ging es nicht mehr.» Aufgrund des Pflegefalls habe sie nicht mehr arbeiten können. «Mein Mann hatte keine Pension. Ich hatte noch eine kleine, doch diese haben sie mir gepfändet, weil ich den Pflegeplatz nicht mehr zahlen konnte.»
Was ist mit den Ergänzungsleistungen?
Wieso genau Monika S. in die Schulden geraten ist, zeigt die SRF-Doku nicht. Doch beim Experten Daniel Leuzinger, der die Sendung geschaut hat, tun sich sofort einige Fragen auf. «Mein erster Gedanke war, warum hat diese Frau keine Ergänzungsleistungen (EL) beantragt?», sagt Leuzinger zu watson. Er ist Dozent für Sozialversicherungen und Case Manager.
«Wenn die Renten und das Einkommen nicht reichen, um die minimalen Lebenskosten zu decken, hat eine Person das Anrecht auf Ergänzungsleistungen», erklärt Leuzinger. «Momentan haben wir 345'000 Bezüger von Ergänzungsleistungen (EL) in der Schweiz. Eine Umfrage der ZHAW hat nun aber ergeben, dass nochmals etwa 200'000 Personen Anrecht auf EL hätten. Diese beantragen sie aber nicht, weil sie es entweder nicht wissen oder sich schämen.»
Stellt sich also die Frage, ob die Rentnerin vergessen hat, die EL zu beantragen, ob sie abgelehnt wurde oder ob sie nur einen Teil der Wahrheit erzählt.
In der Sendung wird die Frage jedoch nicht gestellt. Nicht bei «Tischlein Deck Dich» und auch nicht einige Tage später, als Vetsch der Rentnerin einen Besuch in ihrer Wohnung abstattet, wo es zu eingangs erwähnter Szene auf dem Balkon kommt.
Dass der Beitrag zahlreiche Menschen berührt, zeigt die grosse Summe, die über das Crowdfunding zusammengekommen ist. Die Zuschauerinnen und Zuschauer äussern jedoch nicht nur ihre Solidarität mit der Rentnerin, sondern kritisieren auch die Behörden. Unter dem YouTube-Kanal von SRF schreibt etwa ein User:
Wie sie wirklich in die Schulden gerutscht ist
Doch ist in diesem Fall wirklich der Staat schuld? Lässt die Stadt Dietikon seine Rentnerinnen im Stich, die ein Leben lang gearbeitet haben? watson hat die Rentnerin kontaktiert und sie gefragt, ob die Stadt sie finanziell unterstützt habe bei den Heimkosten.
Gegenüber watson erzählt Monika S. nun eine etwas andere Geschichte als gegenüber SRF: So hat sie EL bezogen, in denen auch die Heimkosten einberechnet waren. Die Stadt Dietikon hat die Kosten fürs Heim also übernommen.
Die Schulden hat die Frau nicht wegen der Heimkosten angehäuft, sondern weil sie jeden Tag mit dem Taxi ins Pflegeheim fuhr, mit ihrem Mann in die Cafeteria ging und ihm dort kleine Wünsche erfüllte. Hinzu kamen weitere Anschaffungen wie zum Beispiel Kleider. Sie verlor die Übersicht über ihre Finanzen und konnte die Heimkosten nicht mehr bezahlen, für die sie aber bereits Geld erhalten hatte. Auch heute erhält die Frau noch EL.
Die Geschichte ist damit nicht weniger berührend. Aber die Ausgangslage ist eine andere, als man nach dem SRF-Beitrag meinen könnte.
Weshalb hat das SRF nicht genauer nachgefragt?
watson wollte vom SRF wissen, weshalb es die Frage nach den EL nicht gestellt hat. Das SRF antwortet nicht direkt, sondern mit einem Statement:
Inhalt des Beitrages war es, anhand des Beispiels von Monika S. die immer grösser werdende Problematik der Altersarmut in der Schweiz aufzuzeigen. Monika S. steht stellvertretend für viele Rentnerinnen und Rentner, welche mit ihrer Altersvorsorge kaum über die Runden kommen.
Wir haben Frau S. bei einer Lebensmittelabgabe der Organisation Tischlein deck dich getroffen, bei der nur Menschen Essen beziehen können, deren Bedürftigkeit von einer Sozialfachstelle überprüft wurde.»
Das sagt die Stadt Dietikon
Auf der Stadt Dietikon ist man froh, dass nun bekannt ist, dass die Frau EL erhalten hat. «Ich habe die Sendung mit Mona Vetsch gesehen und habe mir sofort gedacht, das kann doch nicht sein», sagt Sozialvorsteher Philipp Müller. «Ich weiss ja, dass wir Auffangsysteme haben, die funktionieren.»
Der FDP-Stadtrat hält fest: «Die Stadt Dietikon lässt ihre Bürgerinnen nicht im Stich.» Müller freut sich grundsätzlich, dass das SRF über Armutsbetroffene berichtet. «Ich hätte mir allerdings gewünscht, dass das SRF in dieser Geschichte etwas genauer recherchiert hätte.»
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