So kam es zum Streit zwischen Grünen-Glättli und der SP – in 5 Punkten
Das ist passiert
- Am Montag hatte der Nationalrat hauchdünn einen Ordnungsantrag von Cédric Wermuth (SP) angenommen. Dieser verlangte, dass die grosse Kammer noch diese Woche über zwei Motionen von Mattea Meyer (SP) zur Kurzarbeits- und Erwerbsausfallentschädigung für Selbständigerwerbende und KMU-Inhaber abstimmt.
- Am Dienstagmorgen machte der Nationalrat auf einen erneuten Ordnungsantrag von Kurt Fluri (FPD) hin seinen Entscheid vom Vortag rückgängig – unter anderem dank zwei Stimmen und einer Enthaltung bei den Grünen. Die beiden Motionen werden damit erst in der Herbstsession im September behandelt. In den sozialen Medien warfen SP-Vertreter den Grünen und anderen Parteien vor, zehntausende KMU-Inhaber aufgrund von formaljuristischen Paragrafenreiterei im Stich zu lassen.
Die Vorgeschichte
- Zur Bewältigung der wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie hat der Bundesrat Ende März auf Druck des Parlaments hin eine Erwerbsausfallentschädigung für vom Coronavirus betroffene Selbständigerwerbende beschlossen. Und weitete den Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigung auf Inhaber und inhaberähnliche Angestellte von Unternehmen aus.
- Am 20. Mai beschloss der Bundesrat überraschend, beide Massnahmen per Ende Mai zu beenden – obwohl gerade im Veranstaltungsbereich weiterhin Einschränkungen gelten, welche viele Unternehmer im Kulturbereich empfindlich treffen.
Der Weg durchs Parlament
- Am 26. Mai stimmte eine Mehrheit der nationalrätlichen Sozialkommission (SGK-N) zwei Motionen aus der Feder von Mattea Meyer (SP/ZH) zu. Die Kommission forderte damit den Bundesrat auf, die beiden Massnahmen bis in den Herbst zu verlängern. Die ständerätliche Sozialkommission lehnte die Motionen ab.
- Der Bundesrat teilte am 5. Juni mit, er werde nicht vor der laufenden Sommersession zur Motion Stellung beziehen, sondern erst vor der Herbstsession. Gemäss Parlamentsgesetz ist das sein Recht. Und über Motionen, welche der Bundesrat noch nicht beantwortet hat, stimmt das Parlament üblicherweise nicht ab.
- Mit seinem Ordnungsantrag wollte Cédric Wermuth (SP/AG) dafür sorgen, dass der Nationalrat trotz der fehlenden Antwort des Bundesrates über die Verlängerung der Massnahmen für Selbständige und KMU-Inhaber debattiert: «Wir können jetzt nicht bürokratisch entscheiden, dass die Krise beendet ist; für Tausende ist sie es nicht», appellierte er an seine Ratskollegen. Am späten Montagabend folgte ihm eine hauchdünne Mehrheit von 93 zu 91 Stimmen. Damit wären die beiden Motionen auf die Traktandenliste gekommen und der Nationalrat hätte noch diese Woche darüber abgestimmt.
- Umgehend stellte der Solothurner FDP-Nationalrat Kurt Fluri einen Rückkommensantrag um den knappen Entscheid zu widerrufen. Am Dienstagmorgen wurde darüber beraten. «Unsere Kammer hätte unser Parlamentsrecht klar verletzt und kratzte damit an seiner eigenen Glaubwürdigkeit. Der Bundesrat stünde als Formalist und Arbeitsverweigerer da, obwohl er so handelt, wie es unser Parlamentsgesetz vorsieht», kritisierte Fluri.
- Er löste mit seinen Worten bei einigen Kollegen ein Umdenken aus. Balthasar Glättli, der designierte Präsident der Grünen, änderte seine Meinung: «Wenn wir als Parlament unser eigenes Recht verletzen, dann sägen wir an der Basis, am Fundament der Demokratie. Aus diesem Grund werde ich diesmal anders stimmen. Herr Fluri, Sie haben mich hier überzeugt.» Am Ende wurde Fluris Rückkommensantrag mit 93 zu 89 Stimmen angenommen. Allerdings war nicht Glättlis Stimmungswandel alleine ausschlaggebend: Aus der FDP- und der SVP-Fraktion erhielt Wermuths Anliegen vier Stimmen weniger als noch am Vortag.
Der SP-Frust auf Twitter
- Der Antrag von Fluri und der Schwenk von Grünen-Nationalrat Glättli stiess den Sozialdemokraten sauer auf. In den sozialen Medien machten sie ihrem Ärger Luft:
Die @spschweiz wollte noch in dieser #Sommersession über die Verlängerung der Entschädigung für Selbstständige und #KMU abstimmen. Wegen @FluriKurt und @bglaettli wird dieser Entscheid nun auf die lange Bank geschoben. Das Nachsehen hat das Gewerbe. @cedricwermuth #Nationalrat pic.twitter.com/7Bo84sDjZE
— SP Schweiz (@spschweiz) June 16, 2020
Im Prinzip ist es ganz simpel: Entweder man will etwas für die Selbständigen tun oder man will nicht. Politik ist eine Frage des Willens, nicht von Paragraphen. Alles andere sind Ausreden. #selbständige #kmu #kultur
— Cédric Wermuth - im Exil in der Bea Expo (@cedricwermuth) June 16, 2020
Pseudo-Bürgerliche und ein paar Grüne lassen zehntausende von KMU InhaberInnenen und Selbständige im Regen stehen und revidieren gestrigen Entscheid. Das ist gegen Treu und Glaub und finanzpolitischer Unfug. Ich bin entsetzt und nun so richtig ratlos. #parlCH
— Jacqueline Badran (@JayBadran) June 16, 2020
- Die Angegriffenen wehrten sich gegen die Vorwürfe. FDP-Nationalrat Kurt Fluri bezeichnete Wermuths Antrag als «perfid und populistisch». In einem Blogbeitrag auf der Parteiwebsite schrieb Fluri, die Episode biete einen Vorgeschmack auf das, was man von einer SP unter Co-Präsident Wermuth erwarten müsse: «Der ständige Wahlkampf. Als Begründung benutzt er opportunistisch die Unternehmen, denen seine Partei normalerweise nichts als Steine in den Weg legt.»
Der Beschluss ist erstens gesetzwidrig (Art. 121 Abs. 1 ParlG) und zweitens nutzlos, da der BR diese Woche keine Stellung mehr beziehen wird. Einen undurchsetzbaren Antrag einzureichen, bloss um dem BR die Schuld in die Schuhe schieben zu können, ist perfid und populistisch. https://t.co/M1rO50H2fk
— Kurt Fluri (@FluriKurt) June 16, 2020
- Einen versöhnlicheren Ton schlug Balthasar Glättli an, der ebenfalls einen Blogbeitrag verfasste – doch auch er bezeichnet Wermuths Antrag als nicht zielführend: «Eine Traktandierung im Nationalrat hätte leider nicht zu einer raschen Lösung geführt». Es wäre auch bei einer Annahme «so oder so September geworden». Er setze sich seit Jahren für Grundrechte und für die Anliegen von Minderheiten ein. Grundrechte blieben nur dann wirksam, wenn sie im Einzelfall nicht durch Mehrheiten ausgehebelt werden - auch im Parlament: «Darum tue ich mich sehr schwer damit, solche Regeln zu brechen.»
Corona-Unterstützung für KMU und Selbständige: Ein paar Hintergründe zu meiner von vielen kritisierten Stimmabgabe. https://t.co/Mh9jj5U8JK
— Balthasar Glättli (@bglaettli) June 16, 2020
Die rotgrüne Versöhnung
- Pikant an der Episode: Mit Mattea Meyer, welche die ursprünglichen Motionen eingereicht hatte, Cédric Wermuth und Balthasar Glättli sind die voraussichtlich neuen Parteichefs von SP und Grünen die Hauptakteure des Streits.
- Um kein weiteres Öl ins Feuer zu giessen, wehrte sich Glättli in seinem Blogbeitrag dagegen, die Geschehnisse zu einem Showdown zwischen dem künftigen Parteipräsidenten von Rotgrün aufzubauschen: «Die Arbeit von Mattea und Cédric schätze ich – und ich teile weiterhin in diesem Falle die inhaltliche Kritik am Bundesratsentscheid. Sollten wir uns künftig in den Rollen als Präsidien unserer Parteien begegnen, so freue mich auf die Zusammenarbeit.»
- Am Mittwoch nahm Wermuth den Ball auf – und sprach Glättli immerhin einen «Willen zu einer inhaltlichen Lösung» zu.
Ich teile die Argumentation von Kollege Glättli nicht. Aber, sie ist ehrlich. Ich glaube sein Wille zu einer inhaltlichen Lösung ist klar. Im Unterschied zu vielen mit Sitzplätzen etwas weiter rechts von uns... https://t.co/E3pjqsJBBG
— Cédric Wermuth - im Exil in der Bea Expo (@cedricwermuth) June 17, 2020
