Er hat es immer wieder klargemacht, zuletzt in einem Interview mit dem Migros-Magazin: SNB-Präsident Martin Schlegel will die Null halten. Die Schweizerische Nationalbank sei sich bewusst, dass der Negativzins unerwünschte Nebenwirkungen haben könne, zum Beispiel für Sparer und Pensionskassen. «Die Hürde, ihn wieder einzuführen, ist hoch.»
Schlegel will also nicht. Aber kann er auch, wie er will? Oder zwingen ihn am Ende doch die Ereignisse in den ungeliebten negativen Bereich hinein? Worauf wird es ankommen, wenn Schlegel am 25. September und wieder im Dezember den Leitzins festlegt?
Die SNB hat bereits heute den tiefsten Leitzins aller westlichen Notenbanken. Dennoch wetten die Finanzmärkte, dass Schlegel die hohe Hürde zu einem Negativzins wird überspringen müssen.
Das zeigt sich an den zweijährigen Anleihen des Bundes. Seit Monaten liegen die Renditen darauf im negativen Bereich. Die Finanzmärkte glauben also, dass es eine Zeit lang einen Negativzins geben wird. Die heute schon einzigartige Nationalbank wäre dann noch ungewöhnlicher.
Wie ist die Schweiz in diese Lage geraten? Ist die Nationalbank schuld, weil sie den Leitzins ohne Not zu früh zu weit herabgesetzt hat? Nein, findet Karsten Junius, Chefökonom der Bank J. Safra Sarasin. Seiner Ansicht nach musste die Nationalbank handeln, wie sie gehandelt hat.
Die SNB muss laut Verfassung die Preisstabilität wahren. Das heisst nicht nur, dass die Preise nicht stark steigen sollen. Sie sollen auch nicht stark sinken. Das mag zunächst überraschen. Zumal sich jeder freut, wenn man im Laden das Gleiche für weniger kriegt. Aber man freut sich spätestens dann nicht mehr, wenn der Arbeitgeber seine Preise senken muss, Geld verliert und einem den Job weg spart. Darum muss die SNB stabile Preise gewährleisten.
In der Schweiz steigen die Preise schon seit Langem nicht zu viel, sondern zu wenig. Von 2010 bis 2020 fiel ihr Durchschnitt gar um ein Prozent. In der Pandemie gab es einen Inflationsschub – aber nur einen vorübergehenden. Seither steigen die Preise zwar wieder, aber immer noch nur sehr wenig.
Das liege an den Löhnen, die selbst in guten Zeiten nur sehr wenig zunehmen würden, sagt Ökonom Junius. Bei den Unternehmen steige so ein wichtiger Kostenblock kaum und dadurch seien Preiserhöhungen weniger zwingend. Vielleicht noch wichtiger: Der Franken wertet ständig auf, weshalb die Schweiz ausländische Waren billiger bekommt
Und so hat die Schweiz rekordtiefe Leitzinsen und zugleich rekordverdächtig tiefe Inflation. Das ist anscheinend ihre Normalität. Ist es selbst dann, wenn die Wirtschaft recht gut läuft, und die Betriebe leichter die Preise erhöhen können als in schlechten Zeiten.
Schlegel kann da wenig dafür. Hätte er den Leitzins länger oben gehalten, wäre die Inflation noch schwächer. Er musste tun, was er tat. Er musste auf die Null gehen. Selbst in einer wirtschaftlich recht guten Zeit. Aber jetzt steht er da mit seinem Leitzins auf der Nulllinie. Er will nicht darunter gehen, steht damit aber vor einem Problem.
Eine Schweiz, die selbst in guten Zeiten einen Null-Leitzins braucht, braucht in schlechten Zeiten einen negativen. Bei einer wirklichen Verschlechterung werden die Preise wieder fallen. Die SNB müsste handeln – und dafür zu einem Negativzins greifen.
Bei einer nur leichten Verschlechterung würde er wohl davon absehen. Wegen der Nebenwirkungen. Aber bei einer starken Verschlechterung hätte er keine Wahl. Chefökonom Junius sagt: «Nur, wenn sich die Perspektive deutlich verschlechtert, Konsum und Investitionen zurückgehen, werden wir wieder einen Negativzins haben.»
Es kommt also darauf an, was in den nächsten Tagen und Monaten alles schiefgeht. Schiefgehen kann Trump. Seine Politik ist ein grosses Risiko für die Schweiz – weil es eines für die Weltwirtschaft ist.
So sieht das Mark Zandi, Chefökonom von Moody‘s Analytics. Er hatte 2022 korrekt vorhergesagt, dass die USA ihre Corona-Inflation bezwingen würde, ohne in eine Rezession zu fallen. So kam es. Jetzt erklärt er gegenüber dem Magazin Fortune: «Die USA befindet sich am Rande einer Rezession – oder vielleicht sogar schon in einer.»
Neue revidierte Daten haben gezeigt, dass im Juni nicht wie zuerst vermeldet Tausende Jobs entstanden sind, sondern die Zahl der Arbeitsplätze zurückging. Es war der erste Monatsverlust seit dem Coronajahr 2020. Für Juli und August zeigt sich noch ein geringer Zuwachs, doch auch dieser wird laut Zandi wohl bald ebenfalls weg revidiert.
Und überhaupt habe im letzten halben Jahr weniger als die Hälfte aller Branchen noch Jobs geschaffen. Zandi: «Das hat es in der Vergangenheit immer nur dann gegeben, wenn sich die Wirtschaft in einer Rezession befand.»
Ein Risiko ist auch Frankreich, das erneut eine Regierung verschlissen hat, hoch verschuldet ist, und nun an den Rand einer Schuldenkrise geraten könnte, wie Clemens Fuest, Präsident des Ifo-Instituts, dem Magazin Politico sagte. «Da Frankreich für die Eurozone eine wichtige Rolle spielt, wäre die ohnehin schwache europäische Wirtschaft weiter beeinträchtigt.»
Bei der Europäischen Zentralbank hat es Präsidentin Christine Lagarde darum nicht leicht. Voraussichtlich wird sie am Donnerstag ihre Leitzinsen noch nicht verändern, es aber später in diesem Jahr noch tun müssen.
Schlecht wären Rezessionen in der EU und den USA einmal für die Schweizer Exporte, welche ohnehin unter Trumps 39-Prozent-Zöllen leiden sowie generell unter seinem ständigen Rauf, Runter, Rauf mit den Zöllen. Länder mit schlecht laufender Konjunktur kaufen auch weniger Waren aus der Schweiz.
Und sie würden noch weniger kaufen, wenn durch die Rezessionen eine Flucht in den Franken einsetzt. Ob der Euro und der Dollar dann einbrechen, muss sich zeigen. Dagegen spricht laut Ökonom Junius, dass die Notenbanken in den USA und in der Eurozone derzeit weit höhere Leitzinsen haben als die SNB. Das stärkt ihre Währungen.
Indessen spricht auch einiges für einen Einbruch. Davor warnen die Ökonomen der Bank UBS. Der Status des Dollars als sicherer Hafen schwinde dahin, schreiben sie in einer Studie. Dies könne in der nächsten Krise den Franken deutlich aufwerten lassen. Dessen Status als sicherer Hafen «könnte sich immer stärker als Belastung erweisen.»
Es könnte jedoch auch besser laufen. Trump könnte seine 39-Prozent-Zölle wieder streichen. Die Wirtschaft könnte die Zölle so wie frühere Schocks besser als befürchtet meistern, wie Junius sagt. Zumal nur knapp 4 Prozent davon erfasst würden. «Diesen Teil trifft es hart, er ist aber verhältnismässig klein.»
Falls der Eigenmietwert tatsächlich vom Stimmvolk abgeschafft wird, wirkt dies wie ein kleines Konjunkturprogramm. Hausbesitzer würden Renovationen und andere Investitionen vorziehen, um diese unter dem alten System von der Steuer abziehen zu können. Junius sagt: «Die nächsten zwei Jahre könnten viel besser werden als heute gedacht.»
So oder so werden die Schweizer Zinsen weiter sinken und der Franken weiter steigen. Denn schon heute ist die US-Wirtschaft so schwach, dass die US-Notenbank die Leitzinsen wird senken müssen. Das zieht die langfristigen Zinsen global nach unten, auch jene auf mehrjährige Schweizer Hypotheken.
Der Dollar wird noch billiger, weil Trump das Vertrauen in ihn weiter schwächt. Laut Junius wird er gegen Ende 2025 noch 77 Rappen kosten. Und der Euro wird zum Franken weiter abwerten, so wie er es seit vielen Jahren tut – egal, ob Schlegel tun muss, was er nicht tun will. (aargauerzeitung.ch)