Damals, als der Euro noch frisch und knusprig war, hatte kaum ein Ökonom gewagt vorauszusagen, was in diesen Tagen Tatsache ist: Ein Franken kostet dauerhaft mehr als ein Euro. Die europäische Gemeinschaftswährung hat sich seit ihrer Entstehung vor gut 20 Jahren um rund 40 Prozent zum Franken abgewertet.
Über diese Zeitperiode haben sich Produkte aus Schweizer Fabrikation im Ausland somit um durchschnittlich rund zwei Prozent pro Jahr verteuert. Natürlich war die Entwicklung inflationsbereinigt etwas weniger dramatisch. So sind die Preise in der Eurozone zwischen den Jahren 2000 und 2021 im Mittel etwa um 1.7 Prozent pro Jahr gestiegen in der Schweiz, aber nur um etwa 0.4 Prozent.
Dennoch: Der Franken ist seit der Schaffung des Euro auch real teurer geworden, was für die exportorientierte Schweizer Industrie selbstredend eine schwere Bürde darstellt. Dass sich die traditionell überaus wertschöpfungsintensiven Branchen wie die Pharmaindustrie mit dieser Situation relativ leicht zurechtfinden konnten, stellt keine Überraschung dar. Erstaunlich ist hingegen, wie gut sich auch stark wechselkursexponierte Wirtschaftszweige in diesem Umfeld behaupten konnten.
Ein Paradebeispiel ist die Kunststoffindustrie. Eigentlich dürfte es diese Branche in der Schweiz gar nicht mehr geben - mindestens nach der grauen ökonomischen Theorie (siehe Box). Seit Jahren kämpft sie mit einem immensen Frankenproblem. Wie die Entwicklung des «fairen» Euro-Franken-Kurses suggeriert. Mit dem sogenannten «Fair-Value-Modell» lässt sich berechnen, bei welchem Wechselkurs die Herstellung eines Kunststoffprodukts «made in Switzerland» gleich teuer käme wie Fertigung eines identischen Erzeugnisses «made in EU». Der faire Euro-Franken-Kurs für die Kunststoffbranche zeigt: Die Überbewertung des Frankens zur europäischen Valuta beträgt rund 50 Prozent.
Trotz dieses gewaltigen Preisnachteils ist die Kunststoffbranche in der Schweiz kaum geschrumpft. Das ist ebenso erfreulich wie erstaunlich. Im Vergleich zum Jahr 2012, als die Euro-Schuldenkrise ihren letzten Höhepunkt erreichte und den Frankenkurs schon damals zeitweilig auf Parität zum Euro steigen liess, ist die Zahl der Beschäftigten in der Kunststoffbranche mit gut 33’000 nahezu konstant geblieben. In der gleichen Zeit sind die Exporte sogar um rund 10 Prozent auf 3.6 Milliarden Franken im Jahr 2021 gestiegen. Der Wechselkursnachteil hat die Betriebe gezwungen, produktiver zu werden. Und das ist ihnen auch gelungen, wie der seit 2012 um 15 Prozent auf über 500'000 Franken gestiegene Umsatz pro Kopf eindrücklich belegt.
Gewiss, allgemeine Betrachtungen dieser Art sind immer auch mit einer gewissen Vorsicht zu geniessen. So kann es statistische Verzerrungen durch die Leistungen einzelner Grossunternehmen geben, die mit ihrem Produkten über eine besondere Exportstärke und Preissetzungsmacht verfügen. Doch gerade in der Kunststoffbranche bilden typische Klein- und Mittelbetriebe die dominierende Kraft. Rund zwei Drittel aller Beschäftigten arbeiten in Unternehmen mit höchsten 250 Mitarbeitenden.
Offensichtlich gelingt es seit vielen Jahren auch vielen dieser kleineren Betriebe erstaunlich gut, mit dem teuren Franken zu leben. Was für die Kunststoffbranche gilt ist auch ein generelles Phänomen. Tatsächlich haben die Exporte der Schweizer Industrie seit der Einführung des Euro um gegen 50 Prozent zugenommen, bei einem ungefähr gleich schnellen Anstieg des handelsgewichteten Frankenkurses.
Die Erklärung für dieses Phänomens ist die Spezialisierung. Der Grad der Spezialisierung einer Volkswirtschaft lässt sich ziemlich genau ausmessen, indem man die Exportleistung einzelner Branchen international vergleicht. Die Methode dafür hat der ungarisch-amerikanische Ökonom Bela Balassa schon vor über 50 Jahren erfunden. Sein Konzept des «Reveald Comparative Advantage» (RCA) ist bis heute im Gebrauch. Der RCA-Index zeigt, in welchen Branchen oder Produktbereichen ein Land über relative oder eben komparative Vorteile verfügt.
Nicht viele Länder haben die Spezialisierung in den vergangenen Jahrzehnten so weit vorangetrieben wie die Schweiz. So hat sich die Anzahl wichtiger Produktklassen, bei denen sich die Schweiz im Vergleich zur restlichen Welt in einer besseren Position befindet, zwischen 1995 und 2019 von 80 auf nur mehr 40 Güterklassen halbiert. Abgestiegen sind zum Beispiel diverse Textilerzeugnisse, Aluminiumprodukte, aber auch Kunststofffabrikate.
Überlebt haben in diesen Branchen nur Betriebe, denen es gelungen ist, durch Spezialisierung und Kundenorientierung eine Preissetzungsmacht zu erarbeiten. Erfolgreiche Schweizer Kunststoffverarbeiter verkaufen im internationalen Markt deshalb längst nicht mehr primär den verarbeiteten Werkstoff, sondern vielmehr kundenspezifische Lösungen in ausgewählten Nischen. Diese Art der Spezialisierung hat der Schweiz in den vergangenen Jahrzehnten beträchtliche Wohlstandsgewinne gebracht. Die Kehrseite ist allerdings, dass das Land damit anfälliger für schockartige Veränderungen in der Weltwirtschaft geworden ist. Eine Alternative dazu hat es jedoch nie gegeben. (aargauerzeitung.ch)