Lieber Herr Koch
Ich bewundere Ihre Anpassungsleistung mit jedem Tag mehr. Ja, ich halte sie schon fast für unmenschlich.
Sie wissen, dass die beste Variante zur Eindämmung des Coronavirus in der Schweiz eine rigorose Ausgangssperre wäre. Oder besser: gewesen wäre.
Aber das dürfen Sie nicht sagen. Zu viel muss berücksichtigt werden, die Bevölkerung darf nicht verunsichert werden, die Wirtschaft muss sich erst organisieren und mit der Politik koordinieren können, ganz nach dem Motto: «Geld oder Leben».
Statt also Ihre Szenarien für den weiteren Verlauf der Epidemie in der Schweiz transparent aufzuzeigen, müssen Sie täglich zunehmend alarmierteren Journalistinnen und Journalisten in die Mikrofone und Kameras diktieren, man solle sich an die Hygienevorgaben und -bestimmungen des Bundesrates halten, dann gelinge es eventuell, ein Szenario wie in Italien zu verhindern.
Bloss nehmen bedeutende Teile der Bevölkerung die Bedrohung immer noch nicht ernst genug, und ich kann mir gar nicht ausmalen, wie schwer das für Sie auszuhalten sein muss.
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Am 6. März gab es 181 bestätigte Fälle in der Schweiz. Ab Dienstag, 17. März hatten wir den «Lockdown Light». Das heisst zehn Tage mehr oder weniger freie Bahn für das Virus zur exponentiellen Verbreitung. Mittlerweile sind wir bei 3881 positiv getesteten Fällen in der Schweiz.
Sie wissen natürlich, dass es in der Realität bereits viel mehr sind, die Dunkelziffer betrug in der chinesischen Provinz Hubei während Tagen das Vier- bis Fünffache der positiv getesteten Fälle. Und Sie wissen auch, dass es vom Moment der kompletten Ausgangssperre an 14 Tage dauerte, bis die exponentielle Wachstumskurve bei den bekannten Fällen abzuflachen begann. Bloss haben die Chinesen in Hubei bereits nach drei Tagen beobachtbaren exponentiellen Wachstums eine strenge Ausgangssperre verhängt.
Ein vergleichbar exponentielles Corona-Wachstumsszenario machten Italien und besonders die Lombardei durch. Letztere ist mit der Schweiz nicht nur in der Ansteckungskurve vergleichbar, sondern auch von den Rahmenbedingungen her. Die Lombardei hat vom 212. bestätigten Fall an 13 Tage gewartet bis zum Shutdown, die Schweiz vom 181. Fall an zehn Tage. Es gibt 10 Millionen Einwohner und 1202 Intensivstation-Betten dort, 8,5 Millionen Einwohner und rund 1200 Intensivstation-Betten inklusive Personal hier, wie Sie gesagt haben.
Mit anderen Worten: Wenn wir in Sachen Beschaffung von Beatmungsgeräten und Aufrüstung von Intensivpflegeplätzen nicht noch etwas in der Hinterhand haben, dann sind wir sehr viel eher auf dem Weg zum Szenario Italien/Lombardei als zum Happy End.
Nun haben Sie erstmals gesagt, dass es «absehbar» sei, dass die Betten zumindest im Tessin «nicht reichen» werden und es auch nicht viel Sinn mache, einmal hospitalisierte Patienten noch in andere Kantone zu verlegen.
Sie wissen, dass es helfen würde, die noch immer renitenten Gruppen-Flanierer zur Räson zu bringen, wenn Sie uns reinen Wein einschenken und alle Fakten schonungslos darlegen dürften. Aber Sie dürfen nicht.
Noch nicht.
Liebe Grüsse
Maurice Thiriet
Ich wünsche ihm weiterhin viel Nerv und dass er anschliessend in den Ruhestand wechseln kann. Verdient hat er es.