Die Corona-Fälle sind nach den Festtagen nicht explodiert. Sind Sie beruhigt?
Nicola Low: Nein. Gar nicht. Über die Festtage wurde weniger getestet. Es ist jetzt noch nicht möglich, zu sagen, wie sich das Virus über Weihnachten und Neujahr verbreitet hat. Wir müssen da sehr vorsichtig sein. Die aktuellen Zahlen dürfen wir nicht überinterpretieren. Und zudem ist jetzt eine neue Virus-Variante aufgetaucht.
Sie sprechen die Coronavirus-Mutante B.1.1.7 an.
Ja, wie es aussieht, hat sich diese in Wengen verbreiten können. Wahrscheinlich wurde sie durch britische Touristen eingeschleppt.
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Bis Dienstag waren dem BAG 86 Fälle der B.1.1.7-Mutante bekannt. Ist das ein realistischer Wert, oder ist das Virus bereits viel verbreiteter in der Schweiz?
Das können wir nicht sagen. Diese Zahl hängt natürlich davon ab, wie viele Viren überhaupt sequenziert werden.
Also bei wie vielen Tests überhaupt untersucht wird, ob es sich um die Mutante handelt ...
Genau. Wir wissen, dass in der Schweiz die Anzahl der Viren, die sequenziert werden, zu tief ist. Es ist sicher, dass sich die Mutante in der Schweiz bereits weiter verbreitet hat als nur die 86 Fälle. Aber in welchem Umfang wissen wir nicht.
Wird in anderen Ländern öfter sequenziert als in der Schweiz?
Ja, etwa in Grossbritannien oder in Dänemark. Aber dort ist die Sequenzierung des Coronavirus schon lange etabliert.
Warum in der Schweiz nicht?
Die Task Force hat bereits im Frühsommer gefordert, dass landesweit Sequenzierungen etabliert werden. Das ist aber leider nicht passiert.
Wieso nicht?
Diese Frage müssen Sie dem BAG stellen.
Wäre es denn möglich, jeden Test zu sequenzieren?
Anfang Sommer wäre das sicher möglich gewesen, als wir Fallzahlen unter 100 hatten. Hätte man damals bereits die Vorarbeit geleistet und flächendeckende Sequenzierungen aufgegleist, wären wir heute sicher viel weiter.
Weiss man denn jetzt, um wie viel ansteckender die Mutante B.1.1.7 ist? Wie ist da der letzte Wissensstand?
Die letzten Analysen aus London gehen davon aus, dass die Mutante um 50 bis 70 Prozent ansteckender ist als der ursprüngliche Stamm.
Wie kann man sich das vorstellen, wenn ein Virus ansteckender ist? Steckt man sich dann etwa trotz Maske an? Reichen die bisherigen Regeln dann nicht mehr?
Masken funktionieren immer noch. Aber sie sind nie 100 Prozent effektiv. Auch die Zwei-Meter-Abstand-Regel ist nur ein Richtwert, der nicht garantiert vor einer Infektion schützt. Für Einzelpersonen sind Maske, Abstandhalten und Händewaschen immer noch sehr sinnvolle Massnahmen. Aber das reicht mit der Mutante eben nicht mehr, um die Ausbreitung des Virus in der Gesamtbevölkerung zu stoppen.
Was braucht es denn zusätzlich?
Wir müssen allgemein die Mobilität der Menschen einschränken. Dazu braucht es ein landesweites, einheitliches Massnahmenpaket mit Ladenschliessung, Homeofficepflicht und Fernunterricht an Schulen. Dabei dürfen die Massnahmen nicht inkrementell eingeführt werden, sondern alle auf einmal. Die neue Virus-Variante erfordert diesen drastischen Schnitt. Und zwar am besten noch heute, nicht erst morgen. Das ist aber nicht alles. Darf ich ausführen?
Gerne.
Die Einschränkungen sind ja nur das eine. Wir müssen auch viel breiter testen. Etwa in Büros, in Altersheimen oder am Flughafen. Wieso braucht es keinen negativen Test, um in die Schweiz einzureisen? Diese Tests sollen auch dann beibehalten werden, wenn die Fallzahlen runterkommen, damit es keinen Rebound gibt. Das ergibt dann nochmals einen Vorteil.
Der wäre?
Wenn die Fallzahlen tief sind, wird auch das Contact Tracing wieder effektiver. So können wir das Virus besser kontrollieren.
In Grossbritannien gab es Diskussionen um die Ansteckungsgefahr für Kinder. Ist die Mutante B.1.1.7 gefährlicher für die Kinder als das bisherige Virus?
Das kann man zurzeit noch nicht sagen. Was aber sicher ist: Kinder können sich in der Schule anstecken, das Virus nach Hause tragen und umgekehrt. Wir müssen aber zwischen Jugendlichen und Kleinkindern unterscheiden. Je älter die Kinder sind, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie das Virus übertragen.
In London, wo die Mutante B.1.1.7 besonders verbreitet ist, stiegen die Zahlen stark an, obschon die Läden geschlossen waren. Wieso funktionierte der Lockdown nicht?
Man muss sehr vorsichtig sein mit dem Begriff Lockdown. In London hat man die Massnahmen jetzt ja nochmals verschärft. Die Schulen sind geschlossen, die Leute dürfen das Haus nur noch mit einem guten Grund verlassen. Vorher hatte man dort noch gar keinen richtigen Lockdown.
Die Ladenschliessungen haben also nicht ausgereicht.
Vielleicht hätten die Massnahmen mit dem weniger ansteckenden Virus-Stamm gewirkt. Aber mit der ansteckenderen Mutante B.1.1.7 waren sie nicht effektiv. Jetzt hat man einen wirklich harten Lockdown eingeführt, wir werden sehen, wie sich die Zahlen entwickeln.
Dann sind wir in der Schweiz ja noch sehr weit von einem harten Lockdown entfernt.
Das ist so. Dabei wäre es äusserst angebracht, genau nach Grossbritannien zu schauen und zu handeln. Dank der Zahlen aus Grossbritannien – übrigens auch aus Irland – wissen wir heute genau, was in der Schweiz passieren wird, wenn wir die B.1.1.7-Mutante nicht kontrollieren können ...
... die Zahlen werden steil in die Höhe schiessen. Wobei wir bereits auf sehr hohem Niveau beginnen werden.
Ja. Schauen Sie mal nach Irland! Da waren die Zahlen nach einem Lockdown im Dezember sehr tief. Und plötzlich explodierten die Zahlen. Auch wenn dort wenig sequenziert wird, geht man davon aus, dass der Anstieg auf die Mutante zurückzuführen ist. Diese Kurve ist unglaublich, die ist fast vertikal. Wenn das in der Schweiz passiert, ist das katastrophal.
Väterchen Frost
Im schnell nichts tun sind wir ja ziemlich gut 🙄
Hüendli
Bitsundbites