«Neben dem Abschmelzen der Gletscher werden noch viel ernsthaftere Probleme kommen»
Auch 2025 ist kein gutes Jahr für die Schweizer Gletscher. Auf den schneearmen Winter folgten zwei Hitzeperioden im Juni und August – insgesamt schrumpften die Gletscher in der Schweiz um drei Prozent. Nur viermal seit Messbeginn war es mehr. Dieses Jahr fing die Schmelze zudem so früh an, wie kaum je zuvor.
Damit nahm die Eismasse in den letzten zehn Jahren um einen Viertel ab, wie das Schweizerische Gletschermessnetz (GLAMOS) und die Schweizerische Kommission für Kryosphärenbeobachtung der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz berichten.
Wir wollten es noch etwas genauer wissen und fragten bei Matthias Huss, Glaziologe an der ETH Zürich und Leiter von GLAMOS nach.
Wenn ich die Grafik oben anschaue, sehe ich: Das Eisvolumen nahm seit 1980 von knapp über 90 km3 auf rund 45 km3 ab. Also halbiert innert 45 Jahren. Die einfache Rechnung wäre jetzt ja: 2070 in nochmals 45 Jahren sind die Gletscher weg.
Matthias Huss: Das ist wirklich schwer vorstellbar und wird sehr wahrscheinlich auch nicht eintreten: Die Gletscher versuchen, sich der Klimaerwärmung anzupassen, indem sie in höhere Lagen zurückgehen. Kleine und tiefer liegende Gletscher können dies allerdings nicht und werden verschwinden.
Und die grösseren Gletscher?
Die grossen Gletscher könnten sich durch «Gesund»-Schrumpfen stabilisieren. Nicht etwa weil das Klima günstiger wird, sondern weil es auf 4000 Metern kalt genug bleibt. Das geht aber nur zusammen mit Klimaschutz. Deshalb müsste man eigentlich davon ausgehen, dass sich die Geschwindigkeit des Verlusts irgendwann verringert.
Die globalen Temperaturen stiegen zuletzt aber an. Wie beeinflusst dies die Gletscher?
Genau. Was wir in den letzten Jahren gesehen haben, ist eine immer schnellere Erwärmung. Das hat dazu geführt, dass sich der Rückgang noch weiter beschleunigt hat. Doch die Gletscher können mit ihrem Abschmelzen aktuell gar nicht mit dem Klimawandel Schritt halten.
Dann ist mit dem Temperaturanstieg also doch möglich, dass die Geschwindigkeit des Verlusts hoch bleibt?
Das ist genau das, was wir aktuell beobachten. Obwohl die Gletscher kleiner werden und sie sich eigentlich in grössere Höhen zurückziehen, bleibt die Schmelze sehr hoch. Das hat damit zu tun, dass der Temperaturanstieg einfach viel zu stark ist.
Gibt es noch weitere Effekte, die den Rückgang verstärken?
Lokal ist dies der Fall. Zum Beispiel zerfallen Gletscher zusehends: Felsinseln erscheinen plötzlich inmitten des Eispanzers oder Kavernen unter dem Eis stürzen ein. Dies beschleunigt den Rückgang weiter. Zusätzlich werden Gletscher auch immer dunkler. Das absorbiert mehr Sonnenstrahlung und führt daher zu mehr Schmelze auch wenn die Temperaturen gleich blieben.
Schwindet die Eismasse nicht auch schneller, je kleiner ein Gletscher ist?
Doch klar. Betrachtet man den relativen Verlust, sind die kleinen Gletscher am stärksten betroffen. Dieses Jahr ging zum Beispiel auf jedem Gletscher eine Eisschicht mit einer mittleren Dicke von 1 bis 3 Metern verloren. Für einen Gletscher, der nur noch 10 Meter dick ist, ist das natürlich dramatisch. Für den Grossen Aletschgletscher, der im Mittel noch immer rund 140 Meter dick ist, sieht man das weniger direkt – er bleibt ansehnlich.
Apropos ansehnlich: Sie machen ja jährlich Messungen der Gletscher. Wie fühlt es sich jeweils an, wenn Sie wieder eine Messstange erreichen und diese weit aus dem Eis ragt oder gar umgekippt ist?
Dieses Jahr empfand ich das Gefühl als merkwürdig, ja schon fast etwas beunruhigend: Die Schmelze war gewaltig. Aber wir sind nicht ganz an die Rekordwerte von 2022 und 2023 herangekommen, obwohl es eines der schmelzintensivsten Jahre seit Messbeginn war.
Hatten Sie damit gerechnet?
Auf dem Gletscher hat es sich dieses Jahr schon fast etwas wie eine Erleichterung angefühlt. Es schien mir fast, als ob die Gewöhnung an dieses «Neue Normal» bereits passiert ist – das sollte nicht sein ...
Unsere Gletscher sind für die aktuelle Entwicklung des Klimas zu gross, wie sie früher schon erklärten. Auch mit super Klimamassnahmen, die sofort wirken, würden die (grossen) Gletscher in den nächsten Jahren noch viel an Volumen verlieren. Wie sehr hilft oder schadet dies dem Klima- und Gletscherschutz?
Es ist richtig, dass wir die Gletscher nicht so erhalten können, wie sie sind. Das ist ein Fakt, damit müssen wir uns abfinden. Aber dennoch kann ein Unterschied gemacht werden, was die Bedrohlichkeit der Auswirkungen betrifft.
Was motiviert?
Das Bild, einen Gletscher ganz durch eine Felswüste zu ersetzen, oder zumindest noch einen Rest für unsere Kinder und Enkel zu bewahren, finde ich stark. Und noch etwas.
Ja, bitte.
Wir müssen auch über den Tellerrand hinausschauen: Unsere Schweizer Gletscher sind klein, aber die Eisschmelze in den polaren Gebieten kann gewaltige Auswirkungen auf den Meeresspiegel haben – mit den entsprechenden Folgen.
Wenn wir schon bei weltweiten Zusammenhängen sind: Sie sagten mir im Interview in diesem Frühling, dass falls wir bis 2050 das weltweite Netto-Null-Emissionen-Ziel erreichen, beispielsweise der Grosse Aletschgletscher mit drei Eisströmen erhalten bleibt. Wie gross schätzen Sie diese Möglichkeit aktuell ein?
Die Einschätzung, ob die globale Gemeinschaft das Netto-Null-Ziel bis in 25 Jahren erreichen kann, muss ich eher den Ökonomen, Sozial- und PolitikwissenschaftlerInnen überlassen. Die Klimawissenschaft kann aussagen, was die tragbaren Rahmenbedingungen sind. Es liegt in der Hand der internationalen Politik, diese umzusetzen.
Werden wir die Ziele einhalten können?
Persönlich denke ich, dass es eigentlich gar keine andere Option gibt, als zu hoffen und darauf hinzuarbeiten, dass die Ziele umgesetzt werden. Denn auf einen Planeten Erde mit ungebremstem Klimawandel werden neben dem Abschmelzen der Gletscher noch viel ernsthaftere Probleme zukommen.