Am Sonntag werden Regierung und Parlament im Kanton Zürich neu gewählt. Von einem Wahl«kampf» aber kann keine Rede sein. Nicht einmal der SVP gelingt es, für Aufregung zu sorgen – mit Ausnahme eines Kantonsratskandidaten, der auf einen zweifelhaften Telefonstreich herein fiel. Die Wahlbeteiligung dürfte entsprechend tief ausfallen.
Für den geringen Emotionspegel gibt es vor allem einen Grund: Zürich geht es blendend. Dabei waren die Wahlen im einwohnerreichsten und wirtschaftlich stärksten Kanton der Schweiz in der Vergangenheit stets ein Indikator für die nationalen Wahlen im Oktober. Was ist dieses Jahr zu erwarten? Ein Überblick über die wichtigsten Punkte:
Vor acht und vier Jahren ereignete sich Denkwürdiges: Beide Male wurde ein Regierungsrat abgewählt. Das hatte es in Zürich zuvor während fast 50 Jahren nicht mehr gegeben. 2011 musste Hans Hollenstein (CVP) wegen des Fukushima-Effekts und Führungsmängeln über die Klinge springen. «Entthront» hatte ihn der Grüne Martin Graf, dem 2015 die Affäre Carlos zum Verhängnis wurde.
Dieses Jahr haben die fünf Bisherigen – Markus Kägi (SVP) und Thomas Heiniger (FDP) treten nicht mehr an – wenig zu befürchten. Spannend ist die Frage, ob die SVP mit Natalie Rickli und die FDP mit Thomas Vogel ihre Sitze verteidigen können. Die Wahlumfragen der NZZ vom Januar und des «Tages-Anzeiger» von letzter Woche zeigen, dass zumindest Vogel zittern muss. Er wird vom erst 32-jährigen Grünen Martin Neukom bedrängt.
Appenzell Ausserrhoden ist kein repräsentativer (Halb-)Kanton. Trotzdem muss das Ergebnis der Parlamentswahl vom Sonntag der SVP zu denken geben. Die erfolgsverwöhnte Partei verlor fünf ihrer zwölf Sitze im Kantonsrat. In ihrer Hochburg Zürich droht der SVP ebenfalls eine Schlappe: In der «Tages-Anzeiger»-Umfrage verliert sie 1,8 Prozent, mehr als jede andere Partei.
Für den Abwärtstrend gibt es Gründe. Ihre Kernthemen Asylpolitik und Zuwanderung haben keine Konjunktur. Umso mehr setzt die SVP im Wahlkampf auf Europa und das Rahmenabkommen mit der EU. Mit zweifelhaften Argumenten und ebenso zweifelhaften Erfolgschancen. Das Thema mag in den Medien stark präsent sein, für die breite Bevölkerung aber ist es noch ziemlich weit weg.
Letzte Woche verschickte die SVP einen Flyer an die Zürcher Haushalte, in dem sie SP und FDP vorwarf, sie würden sich «von der Schweiz verabschieden». Das könnte ins Auge gehen. Die FDP und ihr Anhang haben nicht vergessen, wie sie von der SVP als «Nette» und «Weichsinnige» verhöhnt wurden. Muss am Ende gar Natalie Rickli um ihre sicher geglaubte Wahl bangen?
Lange sah es gut aus für die Zürcher SP. Das Verhältnis zum ungeliebten Regierungsrat Mario Fehr schien einigermassen bereinigt. Und nun das: In der Tagi-Umfrage des Instituts Sotomo verliert die SP 1,1 Prozent. Hauptgrund dürfte die Europapolitik sein: Beim Rahmenabkommen bewegten sich die Sozialdemokraten unter dem Einfluss der Gewerkschaften lange auf Nein-Kurs.
Bei ihrer urbanen, mittelständischen Wählerschaft kommt diese virtuelle Nähe zur SVP nicht gut an. Ein Viertel der befragten SP-Wähler ist laut der Umfrage unzufrieden mit der Europapolitik ihrer Partei. Dabei dürfte der Galladé-Effekt eine Rolle spielen. Die Befragung fand laut Sotomo-Leiter Michael Hermann direkt nach dem Parteiwechsel der früheren Nationalrätin zur GLP statt.
Ob national oder kantonal: Die Freisinnigen schienen in den letzten Jahren kaum etwas falsch machen zu können. Von Wahl zu Wahl legten sie zu. Ausgerechnet im «Superwahljahr» 2019 gerät der FDP-Express ins Schlingern. In der Umwelt- und der Europapolitik hinterlässt die Partei mit ihren wechselhaften Positionen einen alles andere als stilsicheren Eindruck.
Trotzdem dürfte die FDP mit einem blauen Auge davonkommen. In der «Tages-Anzeiger»-Umfrage kann sie sogar leicht zulegen, um 0,3 Prozent. Mögliche Abwanderungen nach links wegen der Klimathematik könnten durch Zugänge von enttäuschten SVP-Wählern kompensiert werden. Der Verlust einer ihrer beiden Sitze im Regierungsrat wäre allerdings ein schwerer Schlag.
Die Ökoparteien erlebten in den letzten Jahren eine Achterbahnfahrt. 2011 profitierten Grüne und Grünliberale von der Atomkatastrophe in Fukushima, vier Jahre später stürzten sie ab. Nun verhilft ihnen die verschärfte Klimadebatte zu einem erneuten Boom. In der Umfrage des «Tages-Anzeiger» legen beide Parteien um mehr als zwei Prozent zu.
Besonders rosig sind die Perspektiven der Grünliberalen, die gleich doppelt profitieren könnten. «Sie gewinnen Stimmen von einstigen FDP-Wählern aufgrund ihrer Klimapolitik und von SP-Wählern aufgrund ihres dezidierten Pro-Europa-Kurses», sagt Michael Hermann. Es wäre ein Traumstart für das neue Co-Präsidium mit Corina Gredig und Nicola Forster.
Für die kleinen Parteien geht es vor allem darum, weiter im Kantonsrat vertreten zu sein. Dafür müssen sie in mindestens einem der 18 Wahlkreise die Fünf-Prozent-Hürde überwinden. Bedroht ist vor allem die BDP. Sie hatte es schon vor vier Jahren nur knapp geschafft und muss erneut mit Verlusten rechnen. Für CVP, EVP und EDU sind die Perspektiven laut der NZZ etwas besser.
Wirklich auf der sicheren Seite befindet sich nur die Alternative Liste (AL). Auf dem Land ist sie faktisch inexistent, doch im Stadtzürcher Wahlkreis 4/5 kommt sie regelmässig auf zweistellige Ergebnisse. Die Linksaussen-Partei kann dem Wahlsonntag deshalb beruhigt entgegenblicken.
Eine besondere Beachtung verdient das Wahlverhalten in den städtischen Agglomerationen. Sie waren während Jahren Richtung Land und damit politisch nach rechts gedriftet. Peter Moser vom statistischen Amt des Kantons Zürich begründete dies in der NZZ mit einem Gefühl des Heimatverlustes. In Dübendorf oder Urdorf weht eben nur noch dem Namen nach Landluft.
Bei den Zürcher Gemeindewahlen im letzten Jahr aber hat der Wind gedreht. Die Agglo orientierte sich nach links, Federn lassen musste vor allem die SVP. Mit der Urbanisierung haben sich die Bedürfnisse der Bevölkerung gewandelt und jenen der Städter angenähert: Bezahlbare Wohnungen und Kinderbetreuung, besserer (öffentlicher) Verkehr. Davon profitiert die Linke.
Falls Zürich auch in diesem Fall ein Trendsetter ist, könnte dies weitreichende Auswirkungen auf die nationale Politik haben und den Graben zwischen Stadt und Land vertiefen. Erste Anhaltspunkte könnten die Wahlen in Baselland eine Woche später liefern, auch wenn die dortigen Verhältnisse speziell sind: Die Baselbieter Agglobewohner orientieren sich häufig an der Stadt Basel und interessieren sich wenig für die Politik in ihrem Halbkanton.