Esther räucherte das Wohnzimmer aus. Dafür hatte sie ein Palo-Santo-Scheit angezündet und bewegte sich nun im Uhrzeigersinn durch den Raum. Sie wedelte damit in alle Ecken und in jede Schublade, rauschte an der Bibliothek vorbei, um dann mehrmals den Lounge Chair ihres verblichenen Gatten in immer enger werdenden Zirkeln zu umkreisen. Er erhielt die intensivste Behandlung, hier bückte sie sich und fächelte ganz ungestüm den Rauch unter das Drehkreuz, in dem sich raue Mengen an schlechter Energie verfangen zu haben schienen.
Nach getaner Arbeit legte sie das glühende Holzstück in eine mit Sand gefüllte Schale, wo es nun, mittig platziert auf dem Glastisch, bis zur vollständigen Selbstvernichtung vor sich hin qualmte. Dann öffnete sie die Fenster. «Adieu», sagte sie und entliess allen nun gelösten, feinstofflichen Ballast in die Freiheit.
«Du kannst dich jetzt zu mir setzen», rief sie mit fast singender Stimme Roger zu, der in der Küche wartete. «Hier», präzisierte sie und deutete auf das Makramee-Sitzkissen, das sie selbst aus naturfarbenem Jutegarn geknüpft hatte, wie sie bei jeder Gelegenheit betonte. Heute allerdings nicht. Sie war ganz in die Vorbereitungen der Tarot-Sitzung vertieft. Sie zündete die «Seelenkerze» an, ein langes, unförmiges Wachslicht, das während seiner Produktion durch Esther Fässler beim weihnachtlichen Kerzenziehen mit allzu vielen Farbschichten konfrontiert worden war, sodass es aus dem letzten Bad in einer Art abgespanntem Braun wieder zum Vorschein gekommen war.
Da knieten sie nun um den Megalithen-Glastisch herum, während Esther die Karten mischte. «Schliess deine Augen, atme drei Mal tief ein und aus, während du deine Frage verinnerlichst, dann öffne sie wieder und zieh drei Karten aus dem Deck», wies sie Roger nun in viel ruhigerem Ton an. Und während dieser die Augen schloss und Luft holte, merkte er, wie schwer seine Lider waren. Er wollte überhaupt nicht hier sein. Er wollte keine Karten ziehen und auch überhaupt nichts wissen, weder über die Vergangenheit noch über die Zukunft, und was die Gegenwart anging, in dieser wollte er einfach nur schlafen. Alles wegschlafen, den toten Vater, die vom Tod verunstaltete Liebe, Nicoles Lacher, Géras Wasserstiefel und die blöden Tarot-Karten sowieso.
Aber die Müdigkeit war so bleiern, dass er keine Kraft hatte, sich aus dem Gefüge herauszulösen, das seine Mutter um ihn herum gebaut hatte. Er sass fest in ihrem Bannkreis. Und nachdem sie die Karten fächerförmig vor ihm auf dem Tisch ausgebreitet hatte, streckte er automatisch die Hand nach ihnen aus, als würde sie an einem unsichtbaren Faden hängen. Esther Fässler gab ihm einen Klaps auf die Finger. «Doch nicht mit rechts!», kreischte sie, und Roger zog sie erschrocken zurück. Zögerlich nahm die andere Hand einen zweiten Anlauf, tastete sich übers Mittelfeld, schwang dann ein wenig nach links, bis sie schliesslich den Mittelfinger ausfuhr und drei Karten herauszog.
«Gut», kommentierte sie sein Tun. «Wie lautet deine Frage?»
«Ich habe keine», sagte Roger.
«Roger!», stöhnte Esther.
Und Roger überlegte eine Weile.
«Eigentlich hab ich zu viele. Hinter meinem gesamten Leben steht ein riesiges Fragezeichen. Wann geht es endlich weg?»
«Damit kann ich arbeiten», sagte sie und legte eifrig Rogers Karten der Reihe nach vor ihn hin. Dann deckte sie die erste auf.
«Neun der Schwerter. Plagen dich Geister der Vergangenheit in der Nacht? Ich sehe, dass deine Seele von etwas gequält wurde und vielleicht noch immer gequält wird. Böse Träume, böse Erinnerungen, böse Energien ...»
«Die Karte steht auf dem Kopf, genau genommen zeigt sie auf dich», unterbrach Roger seine Mutter.
Esther schaute auf die Karte und sagte lange nichts mehr.
«Wo warst du, als ich klein war? Als Oma immer herkam und für uns kochte?»
«Weg», sagte sie. «Mir ging es nicht gut. Ich konnte nicht für euch sorgen, ich war ... verwirrt.»
«Wie verwirrt?», hakte Roger nach.
«Ich sah die Welt nicht mehr, wie sie wirklich war.» Sie schien noch etwas hinzufügen zu wollen, entschied sich dann jedoch dagegen. «So, genug von mir», meinte sie mit jener ihm gut bekannten Stimme, an deren Endgültigkeit noch nie zu rütteln gewesen war.
Sie deckte die zweite Karte auf. «Die Welt. Roger, du sehnst dich nach Ganzheitlichkeit. Alle Bereiche deines Lebens und alle Aspekte deiner Persönlichkeit sollen in harmonischer Vollständigkeit zueinanderfinden.»
«Ist das jemals jemandem gelungen?», fragte Roger.
Seine Mutter lächelte. «Wahrscheinlich nicht. Aber es ist ein fundamentales Bedürfnis jedes Menschen, sich zu vervollständigen. Seinen Platz im grossen Ganzen zu erkennen und sich mit der Natur und dem Universum zu verbinden.»
«Ich will mich nicht mit dem Universum verbinden. Ich will nur das Gefühl haben, nicht auseinanderzufallen.»
«Das scheint mir für den Anfang vernünftig», meinte sie und notierte etwas in ihrem Buch der Erleuchtung. So nannte sie das dicke Notizheft, in das sie kritzelte, seit Roger denken konnte.
«Wollen wir uns die Zukunft ansehen?», fragte sie.
«Eigentlich nicht», hörte sich Roger sagen.
«Willst du lieber morgen fortfahren?», fragte seine Mutter, der Rogers Erschöpfung nicht entgangen war. Roger nickte, sichtlich erleichtert darüber, dass das Morgen auch wirklich erst morgen beginnen würde.
«Na dann, gute Nacht», verabschiedete sich Esther und blies die Seelenkerze aus. Roger wünschte ihr selbiges, blieb aber noch sitzen. Seine Füsse waren eingeschlafen, er konnte sowieso nicht aufstehen, bevor die fiesen Nadeln nicht aufgehört hatten, in seine Sohlen zu stechen. Er versuchte, die Füsse zu bewegen, aber es fühlte sich falsch an. Wieso verbrachte er eigentlich die letzte Zeit ständig auf dem Boden? Sein Körper war dafür nicht gemacht. Er lehnte sich zurück und streckte die Beine etwas in die Höhe, es half wenig.
Roger schwante, dass die Erlösung auf sich warten liesse. Blöd nur, lag sein Handy noch immer in der Küche, weil Esther es wegen dem Elektrosmog und störender Schwingungen streng im «Raum der Erkenntnis» verbot, den sie während einer Tarot-Sitzung aufzutun pflegte. Und auch die vielfältigen Zerstreuungsmöglichkeiten der Bibliothek waren nicht in Reichweite. Nur das Buch der Erleuchtung lag noch immer vor ihm auf dem Tisch. Und so kam Roger in Versuchung, darin herumzustöbern. Es fühlte sich ebenso falsch an wie das Bewegen seiner tauben Füsse eben, aber vielleicht liess sich ja Falsches mit Falschem vergelten.