Roger starrte in den geöffneten Tresor, aber ohne wirklich etwas zu sehen. Die Verblüffung hatte ihn für den Moment völlig blind gemacht. Und als das Augenlicht allmählich wieder zurückkehrte, erkannte er im oberen Fach des Tresors eine kleine Holzschatulle. Vorsichtig nahm er sie heraus. Auf dem Deckel stand in krakeliger Kinderschrift «Roger».
Er wusste schon jetzt, was sich darin befand. Der Schatz einer ganzen Woche Klopfarbeit. Roger musste etwa acht Jahre alt gewesen sein in jenem Sommer. Sein Bruder Marcel war im Unihockey-Trainingslager. Und seine Mutter war auch weg: In einer Spezialklinik, weil etwas mit ihrem Kopf nicht stimmte, wie Josef ihm erklärt hatte. Sie musste dort eine ganze Weile geblieben sein, denn in jener Zeit war seine Oma oft da, um zu kochen und zu bügeln.
Jeden Tag stand sein Vater in aller Frühe auf und machte die Eingeklemmten. Er schmierte das aufgeschnittene Weggli mit Mayo voll, legte ein dickes Stück Fleischkäse auf den Weggli-Boden und garnierte es mit einem «Alibi-Gürkli». Damit da auch noch was Gesundes drin sei, meinte er, bevor er es mit dem Weggli-Deckel zudeckte und das Ganze in Frischhaltefolie einwickelte. Zusammen mit einer Flasche Elmer Citro wanderten die Brötchen in den Rucksack, in dem bereits Hammer und Meissel steckten. Dann fuhren sie mit dem Zug über zwei Stunden lang nach Frick auf den Klopfplatz.
Es ist der Ort, an dem man bis heute die versteinerten Überreste von Plateosauriern finden kann, die dort vor über 200 Millionen Jahren an den Schachtelhalmen und Farnbäumen geknabbert hatten. Genau genommen riss der Saurier die Blätter einfach ab und schluckte sie dann runter; kauen war nichts für ihn. Er frass lieber Steine, die im Magen sein Versäumnis wettzumachen hatten und die bis dahin unversehrt gebliebene Nahrung in mühseliger Zusatzarbeit zermahlen mussten. Wer in Sachen Verdauung eine solche Ineffizienz an den Tag legt, braucht sich also auch sehr lange vor der modernen Leistungsgesellschaft nicht zu wundern, wenn er ausstirbt. Wenn die Siesta zu lange dauert, ist das fürs Überleben in der späten Trias genauso schädlich wie fürs Bruttoinlandprodukt im Anthropozän. Besonders, wenn daneben noch ein Vulkan ausbricht.
Und so verschwanden die Plateosaurier von der Erde.
Einzig ihre Knochen blieben da, blieben so lange, bis sie zu Stein wurden und, ein paar Millionen Jahre später, der riesige Urozean Tethys über das Juragebiet schwappte. Dabei hinterliess er ein warmes Flachmeer, wo sich nun jede Menge Ammoniten mit ihren hübschen Spiralhäuschen, Seeigel, Fische und die Urahnen der Kalamare im seichten Wasser zu tummeln begannen.
Abermals vergingen Abermillionen von Jahren, während denen sich Afrika jährlich zwei bis drei Zentimeter nach Norden zubewegte und schliesslich mit der eurasischen Platte zusammenstiess; und nun hob sich der Boden, türmte sich auf und zerklüftete sich, da wurden Schichten gestaucht, über- und untereinandergeschoben, sodass am Ende dieses innigen und selbst wieder Millionen von Jahren andauernden Gewurstels die Alpen herauskamen. Der dabei übriggebliebene Schwung aber reiste weiter nach Norden, wo er, wieder ein paar Millionen Jahre später, auch noch das Juragebirge zurechtfaltete. Das war vor gut 5 bis 10 Millionen Jahren.
Damit war das, was einmal unten in jenem flachen, uralten Meer lag, an die Oberfläche gekommen. Und da stand nun, 200 Millionen Jahre später, ein kleiner Junge neben seinem Vater und klopfte einen Plateosaurier-Zahn aus einem Gesteinsbrocken. Meisselte eine millionenschwere Vergangenheit mit ein paar zielgerichteten Hieben heraus.
Und 200 Millionen und 39 Jahre später sass ein 47-jähriger Mann vor dem Tresor seines Vaters und weinte.
Er hielt die kleine Schatulle noch immer ungeöffnet in seinen Händen. Er wusste, dass sich darin kein Dinozahn befand, er ahnte es schon damals, als er das Fossil aus dem Stein herausgehauen hatte, doch sein Vater bestärkte ihn im Glauben, etwas Besonderes gefunden zu haben. Etwas Grösseres und Selteneres als ein Stücklein eines gemeinen Kopffüssers, der sich gefühlt in jedem zweiten Felsblock jenes Klopfplatzes verewigt hatte.
Es war ihr eigener, kleiner Vater-Sohn-Mythos. Es ging nicht darum, was da wirklich zum Vorschein gekommen war. Allein die Geschichte gab ihm seine Bedeutung. Am Ende geht es immer nur um die Geschichte.
«Roger?», hörte er die Stimme seiner Mutter. «Komm, ich hab dir Kaffee gemacht.» Es war schon Morgen, die Sonne fiel in Josefs Arbeitszimmer, auf dessen Boden er sich wiederfand. Auf seiner linken Backe zeichnete sich die fein eingravierte Linie vom Holzkästchen ab, auf dem er eingeschlafen sein musste. Roger wischte sich den Mund und erhob sich. Sein Körper machte dabei vielfältige Geräusche und alle klangen sie nach verlorener Jugend.
Ja, er hatte verstanden. Das Leben ist zerbrechlich. Selbst wenn es die Natur in einem gewaltigen Fossilierungsakt zuweilen zu konservieren verstand.
«Hast du gefunden, wonach du gesucht hast?,» fragte seine Mutter, als er in die Küche getreten war.
Roger nickte und schaute auf die Schatulle in seiner Hand.
«Gut», meinte sie. «Soll ich dir heute Abend die Karten legen?»
Er stellte seine Kaffeetasse auf den Tisch. «Okay», sagte er. Nicht, weil er scharf auf Tarot war, sondern weil er wusste, dass es die einzige Aussicht auf Versöhnung mit seiner Mutter war, die stets nur in ihrer Welt, unter ihrem transzendentalen Palmblätterdach möglich war.
Dann ging er duschen. Roger musste schleunigst in den Arbeitsmodus kommen. Schliesslich war heute der Tag, dem er seit Wochen entgegengefiebert hatte. Der Tag, an dem er brillieren wollte. Er hielt sein Gesicht in den Wasserstrahl und versuchte, alle Gedanken abzuwaschen, die nichts mit dem Values-Workshop zu tun hatten, der in zwei Stunden anstand.
Es gelang ihm nicht sonderlich gut. Dinosaurier waren riesig und dementsprechend schwer aus dem Kopf zu kriegen. Da hatten selbst die besten Firmenwerte keine Chance. Zum Glück hatte er alles in seiner Power-Präsi drin. Mit tollen Beispielen fürs aktive Gestalten des Arbeitsalltags im Geiste von PINOT. Er würde sich einfach daran entlanghangeln.
Als er das Büro in seinem himmelblauen Anzug betrat, fühlte er sich wie verkleidet. Er trug den Anzug nicht, der Anzug trug ihn. Er versuchte noch, sich mit ihm zu verbinden, machte seine festen grossen Schritte, auf dass sie eine Einheit würden, ein stimmiges Bild abgäben, eins, wo man sagt, doch moll, der Typ hat's im Griff.
Aber Roger hatte es nicht im Griff. Er war nicht fokussiert, dafür hatte sich viel zu viel Vergangenheit in seinem Gehirn festgesetzt.
Es war nicht so, dass er an einem Tag ohne solch existenzerschütternde Entdeckungen vor Selbstbewusstsein gestrotzt hätte. Im Gegenteil, er schien für ein menschenkennendes Auge sogar stets ein wenig verkleidet. Das Bild war noch niemals stimmig gewesen, ob jetzt im himmelblauen Anzug oder in seinen Tennisshorts. Nur war Roger üblicherweise erfolgreicher darin, es sich selbst vorzuspielen. Schliesslich hatte er es ein Leben lang geübt.
Und als er dergestalt an den Damentoiletten vorbeistapfte, sah er beiläufig zur Tür, die gerade halb offen stand. Augenblicklich wendete er seinen Blick ab, weil man ja doch eher nicht in geöffnete Frauen-WCs schauen sollte, aber es war schon zu spät. Er hatte sie gesehen.
Géra, wie sie am Waschbecken stand und ihren Stiefel darin ausleerte.
War das wirklich Géra, die er zum letzten Mal auf dem Tanzschiff gesehen hatte? Und kam da wirklich Wasser aus ihrem Schuh? Was zum ...
Plötzlich wurde alles schwarz. Es war zu viel. Zu viele Geister, die ihn verfolgten. Der Boden, auf dem er eben noch gestanden hatte, bekam Risse und begann auseinanderzubrechen. Schicht um Schicht löste er sich auf und Roger fiel in ein dunkles Loch, fiel tiefer und tiefer, fiel bis zum Erdkern, wo er schliesslich irgendwo aufkam.
Weh tat es nicht, er schien kein Eigengewicht mehr zu haben, er hatte während des Fluges bereits allen Ballast abgeworfen und war schwerelos zum Grund hinabgesegelt. Aber als er die Augen wieder öffnete, war die Schwere sofort wieder da. Nicole kniete neben ihm und tätschelte seine Wangen, während Rita besorgt seinen Namen hauchte.
«Du warst fast fünf Minuten weg,» sagte Nicole, «alles okay?»
«Ich glaube schon», meinte Roger und sah sich um. Hinter den beiden Frauen stand Marco vom Sales und schaute ernst auf ihn herunter. Alle anderen hatten sich aus weiterer Entfernung zu ihm umgedreht und glotzten durch die gläsernen Wände auf den Gang, wo er noch immer lag. Roger winkte ihnen kurz zu, woraufhin sich die meisten wieder ihren Bildschirmen zuwandten.
Géra war nirgends zu sehen.
«Ich werde sofort Hugo informieren, den Workshop machen wir ein anderes Mal», meinte Rita und stand auf. Nicole reichte Roger eine Wasserflasche.
Er trank, noch immer auf dem rauen Teppich sitzend, einen Schluck. Irgendwie war ihm nicht danach aufzustehen. Er schien dem Boden nicht zu trauen, zu Recht, schliesslich war er von ihm verschluckt worden.
«Willst du nicht nach Hause gehen?», fragte Nicole nach einer Weile, in der er keinerlei Anstalten gemacht hatte, sich fortzubewegen.
«Nein. Ich bleibe lieber hier.»
Nicole nickte und blieb auch. Solange, bis plötzlich Esther Fässler auftauchte – mit einem Tupperware voll mit Ghackets und Hörnli.
«Du musst etwas essen», befahl sie und half Roger vom Boden auf. Wortlos ging er seiner Mutter hinterher, die sich in seinem Büro bewegte, als wäre sie zuhause. Sie schob das Essen in die Mikrowelle und deutete auf einen Stuhl am grossen Tisch. Roger setzte sich.
«Das Apfelmus ist schon drauf», sagte sie, als sie das Tupperware vor ihm hinstellte. Und Roger ass. Er ass mit einem solchen Appetit, dass man meinen konnte, da müsse sich jemand ganz schnell zurück ins Leben futtern.