Date im Delfinarium
«Kaffee?», fragte Esther am Morgen, während die Bialetti in ihrer rechten Hand bereits eine eindeutige Schräglage angenommen hatte. Ein Nein lag längst nicht mehr drin. Alles war also wie immer und wieso sollte es auch nicht so sein? Vielleicht gehörten selbst sonderbare Rituale wie jenes, von dem Roger Zeuge geworden war, zu den allnächtlichen Gepflogenheiten seiner Mutter. Wer konnte das schon so genau wissen. Roger jedenfalls nicht. Was aber auch daran lag, dass er es nicht so genau wissen wollte. Etwas daran hatte ihn nämlich durchaus verstört, und jene Verstörung wiederum vertrug er so schlecht, dass sein Gehirn besagte Merkwürdigkeit sofort in Normalität verwandelte. Immerhin mit dem Einwand, dass das, was im Falle von Esther Fässler als normal galt, noch lange nicht einfach so auf den Rest der Menschheit ausgedehnt werden konnte.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.
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«Danke» sagte er, nachdem sie ihm den Kaffee in die bereitstehende Tasse eingegossen hatte.
«Was steht heute an?», fragte Esther.
«Ich fahr mit Rita ins Delfinarium nach Schlesgau, da gleich hinter der Grenze.»
«Oh! Aber du magst doch gar keine Delfine. Weisst du noch, als wir auf den Galapagosinseln waren und einer sich so verdächtig an deinem Bein gerieben hat?»
«Wie könnte ich es vergessen, Mutter.»
«Und trotzdem willst du dahin?», fragte Esther nach.
«Ich geh ja nicht mit ihnen schwimmen. Ich geh Rita zuliebe. Schliesslich hat sie mich zu Vaters Beerdigung begleitet, da kann ich auch mit ihr ins Haus der Tümmler.»
Esther nickte zustimmend.
Draussen herrschte ein unentschiedenes Wetter, eines, dem man keinesfalls vertrauen konnte. «Ein richtiges Steppgilet-Wetter», schloss Roger – und schlang sich gleich noch seinen Schal um den Hals.
«So ganz sicher nicht», meinte Esther, die ihren Sohn vor dem Hinausgehen gern eingängig musterte. Roger seinerseits hatte sich in den letzten Tagen schon wieder derart daran gewöhnt, dass er keinen Schritt mehr vor die Tür wagte, bevor sie ihm nicht ihr Okay gegeben hatte.
«Das sieht ja aus, als baumelte eine tote Boa von deinem Hals herab. Wenn Rita deine Freundin werden soll, musst du das schon ein wenig eleganter lösen», meinte sie, griff nach dem losen Ende des Schals und warf es schwungvoll über Rogers Schulter. Dann trat sie ein paar Schritte zurück, um ihr Werk ganzheitlich zu betrachten. «Hmm», machte sie, packte nun einen Ticken energischer das soeben hinter die Schulter bugsierte Schlussstück, schlang es einmal um seinen Nacken und verknotete die beiden Enden. Ihre rauen Arbeiterinnenhände zogen und nestelten, bis ihr Gesicht verriet, dass sie nun endlich Perfektion herbeidrapiert hatte.
«Ich ersticke», sagte Roger.
«Besser als schlecht auszusehen», gab seine Mutter zurück.
«Bis später», sagte er und verliess das Haus.
Rita wartete vor ihrem Wohnblock. Sie trug ein langes geblümtes Kleid und darüber eine Jeansjacke. Als sie ihn heranfahren sah, winkte sie lächelnd.
Die Fahrt dauerte eine gute Stunde, die sie grösstenteils mit Gesprächen über den anstehenden Values-Workshop zubrachten. Gelegentlich griff sich Roger an den Schal und versuchte, ihn etwas zu lockern. Aber seine Mutter hatte ganze Arbeit geleistet.
Am Eingang zum Delfinarium hatte sich eine kleine Menschentruppe mit Schildern versammelt. Auf dem einen stand «Freedom for the Dolphins», auf dem anderen war «Kein Eintritt für Tierquälerei» zu lesen. In einem knallig orangen Planschbecken tummelten sich zwei junge Frauen in silbernen Overalls und Delfinmasken. Rita wurde blass und blieb stehen, den Blick auf den Pool gerichtet, wo die Hände und Beine der Aktivistinnen in Ketten lagen.
Sie klammerte sich an Roger. «Aber ... die haben es doch gut hier?», fragte sie ihn flüsternd. «Sicher», beschwichtigte Roger, und führte sie schnell an den Protestierenden vorbei zur Kasse. «Viel Spass im Delfinfriedhof!», rief ihnen eine Männerstimme hinterher.
Vorsichtig schaute er zu Rita hinüber, die ganz still auf ihrem Platz sass und ins leere blaue Bassin vor ihnen starrte. Dahinter war das Meer aufgemalt, dazu ein Strand mit Palmen. An den Seiten ragten riesige Plastikfelswände aus dem Wasser bis hinauf zur weissbalkigen Decke.
Ritas Augen glänzten. Doch als die ersten Delfine durch die Luft flogen, glaubte Roger zu sehen, wie sich ihr Gesicht allmählich aufhellte. Er war sich ziemlich sicher, dass sie sich mit der Situation versöhnt hatte. Die Sprünge verhiessen schliesslich pure Freude.
Alles Kinderkreischen, das Klatschen und Platschen, so schien es ihm, verschmolz bald zu einem dumpfen, verzerrten Klangball, der zwischen den Delfinschnauzen hin- und hergeworfen wurde.
«Ich glaube, mein Vater hat für den Geheimdienst gearbeitet.»
Erleuchtungen überfallen Menschen immer und überall und manchmal sogar im Delfinarium. Jedenfalls überfielen sie da Roger. Es war, als hätte er den Klangball direkt an den Kopf gekriegt.
Rita schaute ihn eindringlich an: «Wie kommst du darauf?»
«Niemand kann ein Leben lang ohne Grund dermassen unfassbar sein. Ich war sein Sohn und ich weiss nichts über ihn zu erzählen.» Rogers Stimme klang gepresst.
Rita knotete ihm den Schal auf und nickte. Dann wandte sie sich wieder den Delfinen zu.
«Tat er vielleicht mal was Geheimnisvolles?», fragte sie, den Blick noch immer aufs Becken gerichtet.
«Hmm, eigentlich nicht», meinte Roger zögerlich. «Er gab jahrelang vor, Kreuzworträtsel zu lösen. Das ist doch seltsam, oder findest du nicht?»
«Ja, schon. Aber macht ihn das gleich zum Agenten?»
«Vielleicht trainierte er damit seine Täuschungsfähigkeit. Oder er heckte währenddessen geheime Pläne aus. Oder gleich beides zusammen, Spione sind doch sicher Multitasking-Profis! Aber was weiss ich schon. Nichts. Rein gar nichts! Das ist ja das Problem.»
Roger fasste sich an die Stirn und schaute auf seine neuen On-Schuhe. Alles fühlte sich so sinnlos an.
Als Rita aus dem Wagen stieg, war es bereits dunkel geworden. Sie hatten noch zusammen im Dolph-In gegessen, aber die Stimmung blieb getrübt, erst die Tierschützerinnen und dann die Geheimagentensache, es war alles zu viel Ballast für eine so frische Bekanntschaft. Von allem Anfang an hatte sich der Tod an sie drangehängt wie ein übergewichtiger Trittbrettfahrer, der ihr kleines, papierenes Liebesschiffchen in die Tiefen des unergründlichen Meeres herabzog.
«Danke», sagte Rita, «bis am Montag im Büro», dann schlug sie die Wagentür zu. Beim Hauseingang drehte sie sich noch einmal um und winkte.
Als Roger ins Haus trat, roch er den Rauch sofort. Kein Licht brannte, also tastete er nach dem Schalter und als er ihn fand, schrak er auf. Esther sass in Josefs Sessel und zog genüsslich an dessen Pfeife. Den Rauch entliess sie in groben Stössen aus ihrem Mund.
«Was zur Hölle tust du da?», fragte Roger aufgebracht.
«Das siehst du doch, ich rauche.»
«Warum? Du hast den Geruch immer gehasst.»
«Nicht den Geruch.»
«Und warum sitzt du im Dunkeln?»
«So viele Fragen, Roger. Setz dich zu mir.» Sie deutete aufs Sofa, doch Roger blieb stehen.
«Das ist Vaters Sessel. Und Vaters Pfeife!»
Esther lachte. Es war ein böses Lachen. Eines, das sie überhaupt noch nie gelacht hatte. Dann hörte sie abrupt damit auf. «Darf ich in meinem eigenen Haus nicht trauern, wie ich will?», schrie sie ihn an.
«Morgen bin ich weg», sagte er und ging.
Im Gang blieb er vor der Tür von Josefs Arbeitszimmer stehen. Er hielt die Türklinke für eine ganze Weile in der Hand, traute sich aber nicht, sie runterzudrücken. Irgendwann tat er es dann doch. Schwer und bedrohlich baute sich der viktorianische Schreibtisch in der Mitte des Raumes auf. Roger knipste die Banker-Lampe an. Im gedämpften Licht wirkte das Ungetüm schon etwas freundlicher. Drei Schubladen auf der linken Seite und ein Schrank auf der rechten umsäumten die Mahagoni-Platte. Darin befand sich der Tresor. Immer, bevor die Fässlers in die Ferien fuhren, hatte Esther ihren Goldschmuck da reingelegt. Aber was mochte sein Vater darin aufbewahrt haben?
Roger setzte sich auf den Boden vor die Schranktür. Dann öffnete er sie langsam. Der Tresor besass einen Drehknopf mit den Zahlen 0 bis 99. Als kleiner Junge hatte er seinen Vater jeweils dabei beobachtet, wie er nach den Ferien daran herumhantierte. Aber die Zahlenkombination kannte er nicht. Er wusste bloss, dass es ein sechsstelliger Code war. Er brauchte also nicht mehr als drei zweistellige Zahlen und dennoch ergaben sich daraus eine Million verschiedener Möglichkeiten.
Das waren eine Million Fragezeichen mehr. Kaum hatte er einen neuen Brotkrümel gefunden, zerbröselte er schon wieder in seiner Hand, wurde selbst wieder zu einer Million neuer Krümel. Alles zerfiel in immer kleinere Stückchen, anstatt sich zu einem Ganzen zusammenzufügen. Zu einem Bild oder zumindest zu einer Ahnung, zu irgendwas.
In seiner Verzweiflung spielte Roger einfach ein bisschen am Schloss herum. Es war eine «Mission Impossible», aber leider war er nicht Tom Cruise. Und ein Stethoskop lag hier auch nirgendwo rum.
Nicht einmal den Geburtstag seines Vaters kannte er. Seine Mutter hatte ihn jedes Jahr daran erinnern müssen. Irgendwann im Herbst. Also nahm er die Zahl 08, weil das H der achte Buchstabe im Alphabet war. 05 für E, dann folgte mit R die 18. Damit hatte er bereits alle sechs Ziffern vergeudet und mit 08-05-18 quasi nur «Her» geschrieben. Das Schloss zeigte sich ob dieser Halbpatzigkeit gänzlich unbeeindruckt. Mit 85-18-21 kam er zwar ein wenig weiter, aber auch damit liess sich das Riegelwerk nicht öffnen.
In Ermangelung des väterlichen Geburtstages probierte Roger es nun mit seinem eigenen. Er drehte vier Runden im Gegenuhrzeigersinn bis zur 19. Dann drei in entgegengesetzter Richtung bis zur 01. Dann wieder zwei Umdrehungen nach links bis zur 78. Weil in seinem Büro auch so ein stählernes Ding stand, kannte er sich mit dessen Mechanik aus. Zuletzt musste man nach rechts drehen bis zum Anschlag.
Klick.