Ist das schon eine Krise? Nach 20 Runden stand der FC Bayern mit 50 Punkten und erst zwei Niederlagen da. Es war zu diesem Zeitpunkt die sechstbeste Saison der Bundesliga-Geschichte. Im DFB-Pokal sind die Münchner zwar ausgeschieden, doch qualifizierten sie sich in der Champions League souverän für den Achtelfinal. Für fast jeden anderen Verein wäre es eine herausragende Ausbeute, doch in München herrschte schon da keine euphorische Stimmung.
Dann folgten die Niederlagen bei einem überragenden Leverkusen und bei Lazio Rom – und schon brennt in München der Baum. «Wir haben den Faden verloren und dann noch alles dafür getan, dass wir in Rückstand geraten», sagte ein frustrierter Thomas Tuchel nach der knappen 0:1-Niederlage gegen Lazio. Urgestein Thomas Müller räumte ein: «Wir drehen uns im Kreis. Wir sind nicht zufrieden, das ist völlig klar, und ihr könnt auch von mir aus draufhauen.»
Nach den schwachen letzten Tagen beträgt der Rückstand auf Leader Leverkusen fünf Punkte, international steht Bayern bereits unter Druck. Um die eingangs gestellte Frage zu beantworten: Ja, für den deutschen Rekordmeister ist das definitiv eine Krise.
Und die Gründe dafür sind schnell gefunden. In der mit 59 Toren eigentlich stärksten Offensive der Top-5-Ligen haperte es zuletzt bei der Chancenerarbeitung und der Durchschlagskraft. Harry Kane, der im Sommer für 95 Millionen Euro von Tottenham gekommen ist und bisher wettbewerbsübergreifend 28 Tore erzielte, hing in den letzten beiden Partien und auch beim 0:1 gegen Bremen im Januar zu häufig in der Luft, obwohl er auch ins Passspiel gut eingebunden werden könnte. So hat Bayern erstmals seit Mai 2015 (!) in zwei Pflichtspielen in Serie nicht getroffen.
Ausserdem wirkte das Team von Trainer Tuchel defensiv alles andere als gefestigt. Gegen Leverkusen liessen die Bayern einmal Josip Stanisic völlig frei vor dem Tor stehen, und sie liessen sich beim zweiten Gegentor von Alejandro Grimaldo und Nathan Tella per Doppelpass übertölpeln. In Rom führte dann ein unnötiges Foulspiel von Dayot Upamecano im Strafraum zum Gegentreffer aus elf Metern. «Er hatte keine Not, da überhaupt die Bewegung zu machen», kritisierte Tuchel nach dem Achtelfinal-Hinspiel.
Eine weitere Baustelle findet sich im defensiven Mittelfeld. Dem Klub fehlt nach wie vor die von Tuchel im Sommer vehement geforderte «Holding 6», also ein Sechser, der die Position hält und seine Qualitäten in der Defensive hat. Zwar schickt sich Aleksandar Pavlovic an, diese Lücke zu füllen, doch fehlen dem 19-Jährigen noch die Konstanz und die Erfahrung in den wichtigen Spielen. Auch Joshua Kimmich und Leon Goretzka, beide 29-jährig, bringen nicht die nötige Stabilität.
Dass sich Tuchel ebenfalls Kritik anhören muss, ist klar. Schliesslich stellte er Neuzugang Sacha Boey in seinem ersten Spiel für Bayern gegen Leverkusen auf die ungewohnte linke Seite. Der Rechtsverteidiger war es, der Stanisic in seinem Rücken vergass. Und Tuchels Kniff, Leverkusens System zu spiegeln und erstmals in dieser Saison auf eine Dreierkette zu setzen, war ein Schuss, der nach hinten losging.
Leverkusen-Coach Xabi Alonso war dem Deutschen mit seiner Umstellung auf eine Viererkette schlicht und einfach einen Schritt voraus. Grimaldo, der ansonsten die gesamte linke Aussenbahn beackert, agierte im Spitzenkampf als Flügel noch offensiver und wurde zum Torschützen. Obwohl Tuchel die Taktik-Schlacht mit dem Spanier verlor und es manchmal so wirkt, als würden er und die Vereinsführung um die graue Eminenz Uli Hoeness gegeneinander arbeiten, ist er nicht das grösste Problem bei Bayern.
Dieses liegt nämlich viel tiefer. Die Sorgen der Bayern sind nämlich fast deckungsgleich mit jenen des deutschen Nationalteams. Dies erscheint logisch, war es doch stets das Ziel der Münchner, einen Grossteil der Nationalspieler in den eigenen Reihen zu haben. So waren die Leistungsträger bei den meisten EM- und WM-Titeln Deutschlands ab 1974 grösstenteils Bayern-Profis. Bei den letzten Spielen der DFB-Elf standen aber nur noch zwei oder drei Akteure des FC Bayern in der Startformation. Dies liegt nur bedingt daran, dass die Nationalspieler nicht mehr zum Bundesliga-Krösus wechseln wollen. Vielmehr ist es Sinnbild der Krise des deutschen Fussballs.
So können die Münchner nicht mehr auf die Deutschen bauen und gleichzeitig den Anspruch hegen, in der Champions League um den Titel zu spielen. Einen echten Anführer sucht man sowohl beim FC Bayern als auch im Team von Bundestrainer Julian Nagelsmann vergebens. Auch die Verteidiger sind ein grosser Teil der Problematik. Waren diese einst Aushängeschilder des deutschen Fussballs, spielt heute einzig Real Madrids Antonio Rüdiger bei einem internationalen Topklub. Bei den Bayern kam in dieser Saison mit dem 21-jährigen Frans Krätzig nur ein einziger deutscher Verteidiger zum Einsatz – während ganzen 195 Minuten.
Auch deshalb musste der FCB seit 2019 insgesamt 304,5 Millionen Euro in Lucas Hernandez, Benjamin Pavard, Dayot Upamecano, Matthijs de Ligt, Min-jae Kim und Sacha Boey investieren. Dasselbe Problem zeigt sich im Sturm, wo Deutschland seit mindestens Miroslav Klose auf einen Spieler von Weltformat wartet. So sahen sich die Verantwortlichen an der Säbener Strasse gezwungen, Harry Kane für eine Ablösesumme zu verpflichten, die durch Bonuszahlungen auf bis zu 120 Millionen Euro steigen könnte.
Weiterhin leiden die Münchner ebenso wie das Nationalteam darunter, dass die vielversprechende Generation der 1995er und 1996er bisher nie ganz halten konnte, was sie einst versprach. Weder Kimmich noch Goretzka oder Leroy Sané und Serge Gnabry haben sich so entwickelt, wie ihre starken Leistungen als Jungprofis vermuten liessen. Sané, der eine grandiose Hinrunde gespielt hat, wartet nunmehr seit Oktober auf einen Treffer, in den letzten sechs Spielen bereitete er ausserdem nur ein Tor vor. Es zeigt einmal mehr, dass ihm wie vielen seiner Kollegen die Konstanz fehlt.
So richtig überzeugen kann von den Deutschen in Diensten von Bayern München derzeit also niemand. Auch Hoffnungsträger Jamal Musiala befindet sich in dieser Saison nicht in seiner Bestform, wobei es eher als Schwäche seines Klubs als von ihm angesehen werden muss, dass dieser so stark von der Kreativität und den Leistungen eines 20-Jährigen abhängt.
Symptomatisch ist auch, dass mit Manuel Neuer und Thomas Müller ein 38- und ein 35-Jähriger nach wie vor die Wortführer sind, die sich auch nach schwierigen Spielen den Fragen der Journalistinnen und Journalisten stellen. Dabei kommt Müller häufig nur noch von der Bank, während Neuer trotz seiner langen Verletzungspause auch deshalb nach wie vor unumstritten ist, weil es in der stolzen Torhüter-Nation Deutschland keinen echten Nachfolger gibt.
Die Tatsache, dass die Bundesliga finanziell immer weniger mit Premier League und Co. mithalten kann, gehört ebenfalls zu den grossen Problemen des deutschen Fussballs. Wechselten die besten Spieler der Liga früher regelmässig und verhältnismässig günstig nach München, gehen Spieler wie Kai Havertz, Erling Haaland oder Josko Gvardiol nun hauptsächlich nach England. Auch das hat schwerwiegende Konsequenzen für den 33-fachen Meister, der sich aus den letzten Jahren und Jahrzehnten einen anderen Standard gewohnt ist.
Ich habe es schon vor einem Jahr gesagt, aber die damalige Entlassung von Nagelsmann war ein Fehler.