Am Dienstagabend treffen die Young Boys in der Champions League auf Atalanta Bergamo. Für den Schweizer Meister geht es dabei um viel. Bei einem Heimsieg ziehen die Berner an den Norditalienern vorbei auf den dritten Platz und dürfen noch vom Einzug in den Achtelfinal träumen. Bei einer Niederlage hingegen wäre bereits klar, dass YB die Gruppe auf dem letzten Platz beendet und so nicht europäisch überwintern darf.
Mit Atalanta wartet auf YB eine schwierige Aufgabe. Beim 0:1 im Hinspiel in Bergamo blieben die Berner über weite Strecken chancenlos und mussten es ihrem starken Goalie David von Ballmoos verdanken, dass sie bis zum Schluss noch auf einen Punktgewinn hoffen durften.
Auch in Bern wird Atalanta somit als Favorit ins Spiel gehen, zumal sich die Bergamasken zuletzt gut in Form zeigten. Am Wochenende gab es gegen Spezia einen 5:2-Kantersieg, in der Liga ist Atalanta nach wie vor auf dem guten vierten Platz klassiert.
Mit den Norditalienern wartet also eine äusserst unangenehme Aufgabe auf YB. Gian Piero Gasperini hat aus seiner Mannschaft über die Jahre ein Team geformt, welches äusserst unangenehm zu bespielen ist – Manchester Citys Trainer Pep Guardiola verglich eine Partie gegen Atalanta einst mit einem Besuch beim Zahnarzt. Doch was ist am Spiel der Italiener derart speziell, dass es von vielen Gegnern als besonders unangenehm angesehen wird? Ein Erklärungsansatz in fünf Punkten.
Atalanta versucht jeweils konsequent, das gegnerische Team am Aufbau zu hindern. Nicht nur die Stürmer, sondern auch die Mittelfeldspieler und Verteidiger stehen anfänglich sehr hoch, wenn etwa ein gegnerischer Goalie den Abstoss kurz spielt und versuchen will, das Spiel vom gegnerischen Strafraum aus aufzubauen. So soll der Ball möglichst schnell gleich wieder erobert werden.
Dieses Pressing setzt Atalanta oft erfolgreich um. Die Bergamasken schafften es in der Liga in dieser Saison bei 33,6 Prozent ihrer Versuche, den Ball nach maximal fünf Sekunden Pressing bereits wieder zurückzugewinnen. Dies ist der beste Wert aller Teams in der Serie A.
Mit dieser Strategie macht es Atalanta für die Gegner extrem schwierig, ein gepflegtes Offensivspiel aufzuziehen. Gegen die Norditaliener haben die Serie-A-Teams in dieser Saison die bisher höchste Fehlpassquote, was auch daran liegt, dass wegen des Pressings auffällig oft mit hohen Bällen operiert werden muss.
Dieses Pressing war auch eines der grössten Probleme der Young Boys im Hinspiel. Die Berner kamen mit dem hochstehenden Gegner überhaupt nicht klar, was auch die Zahlen belegen: So waren ganze 47,6 Prozent der Pressing-Versuche Atalantas in den ersten fünf Sekunden erfolgreich, was in einer hohen Fehlpass-Quote (30%) und schliesslich in geringem Ballbesitz (37%) und fast keinen Torchancen resultierte.
Gian Piero Gasperini lässt Atalanta meistens in einem 3-4-2-1 auflaufen. Eine besonders wichtige Rolle nehmen dabei die beiden Aussenläufer im Mittelfeld ein. Diese heissen normalerweise Hans Hateboer und Robin Gosens, da beide derzeit verletzt sind, werden sie derzeit von Davide Zappacosta und Joakim Maehle ersetzt.
Diese vier Spieler sind allesamt gelernte Aussenverteidiger, nehmen aber in Bergamo eine äusserst offensive Rolle ein. Kaum ist Atalanta im Ballbesitz, sprinten die Aussenläufer in die Nähe des gegnerischen Strafraums, wo sie quasi als zusätzliche Flügelstürmer agieren.
Damit stellen sie die gegnerischen Defensiven regelmässig vor Probleme. Greift Atalanta über die rechte Seite an, rückt die Defensive ebenfalls etwas auf diese Seite und lässt so den linken Aussenläufer in gefährlicher Position frei stehen.
Diese Situationen wusste vor allem Robin Gosens in den letzten Jahren hervorragend auszunutzen. In der vergangenen Saison kam der gelernte Aussenverteidiger in 32 Spielen auf elf Tore und sieben Vorlagen, somit auf mehr Torbeteiligungen als etwa Marco Reus beim BVB in gleich vielen Spielen.
In dieser Saison weiss vor allem Zappacosta auf rechts zu überzeugen. Der 29-Jährige kommt auf vier Torbeteiligungen in zwölf Ligaspielen, zudem hat er von allen Verteidigern der Serie A die meisten Ballberührungen im gegnerischen Drittel und im gegnerischen Strafraum pro 90 Minuten Spielzeit. Dazu gehört er auch bei den geschlagenen Flanken und abgefangenen Pässen zu den Besten der Liga.
Auf links schafft es Maehle hingegen noch nicht ganz, Gosens ebenbürtig zu ersetzen. Der Däne hat in dieser Serie-A-Saison noch keine Torbeteiligung, was nach seiner starken EM eine kleine Enttäuschung ist. Dafür ist Maehle aber im Spiel gegen den Ball und damit im Pressing von Atalanta äusserst wertvoll. So gehört er bei den Balleroberungen zu den stärksten Verteidigern der Liga.
Auf den ersten Blick scheint Duvan Zapata eine klassische Neun zu sein – der Kolumbianer ist 189 Zentimeter gross und kräftig gebaut, womit er die Statur eines klassischen Strafraumstürmers hat.
Unter Gasperini hat sich Zapata allerdings zu einem absolut kompletten Stürmer entwickelt, der für jeden Gegner unangenehm zu verteidigen ist. Natürlich weiss er im Strafraum seine körperliche Stärke auszuspielen, dank der er in den bisherigen elf Serie-A-Spielen schon acht Tore erzielt hat. Doch in den letzten Jahren zeichnet sich der 30-Jährige auch insbesondere durch seine Unberechenbarkeit und Spielintelligenz aus.
So mag es der Kolumbianer, welcher bei Atalanta meist der einzige gelernte Mittelstürmer auf dem Platz ist, immer wieder auf die Flügel auszuweichen. Damit eröffnen sich den Norditalienern gleich mehrere Optionen: Einerseits zieht er oft Verteidiger mit sich und öffnet Räume für einen der offensiven Mittelfeldspieler oder den Aussenläufer auf der anderen Seite. Andererseits hat Zapata auf der Aussenbahn viel mehr Platz, wo er Tempo aufnehmen und mit seiner Wucht seinen direkten Gegenspieler vor noch grössere Probleme stellen kann.
Bestes Beispiel dafür ist die Szene, welche beim Sieg im Hinspiel gegen YB zum einzigen Tor des Abends führte: Zapata setzte sich auf rechts aufgrund seiner körperlichen Überlegenheit gegen Sandro Lauper durch und legte den Ball zur Mitte, wo der aufgerückte Matteo Pessina zum 1:0 traf.
Doch nicht nur solche Szenen, auch die Statistiken zeigen, dass Zapata mittlerweile zu den besten und komplettesten Spielern der Serie A gehört. So ist er in dieser Saison der Stürmer mit den meisten Vorlagen und gehört statistisch auch bei den Flanken, Dribblings und Ballkontrollen im gegnerischen Strafraum zu den besten zehn Prozent der Liga.
In Gasperinis 3-4-2-1 spielen meist vier gelernte Mittelfeldspieler, zwei zwischen den beiden Aussenläufern, zwei hinter der Spitze. Dabei sind die Rollen klar verteilt: Zwei, gegen YB wohl Remo Freuler und Marten de Roon, übernehmen den defensiven Part, womit die anderen beiden, wohl Mario Pasalic und Josip Ilicic, sich um die Offensive kümmern.
So ist es Gasperini gelungen, eine hervorragende Balance zwischen Sicherheit und Risiko zu finden. Freuler und de Roon sind die Arbeiter der Mannschaft. Sie kommen gemeinsam in dieser Saison nur auf eine Torbeteiligung, bestechen aber durch ihre Zuverlässigkeit. Beide gehören zu den 15 Spielern mit den meistabgespulten Kilometern pro 90 Minuten und haben die beste Passquote des Teams.
Ihre Aufgabe ist es, Lücken zu füllen und das Spiel aufzubauen, damit vorne die beiden kreativen Spieler – zwei aus dem Quartett aus Josip Ilicic, Mario Pasalic, Matteo Pessina und Ruslan Malinowskyj – sich entfalten können. Diesen Spielen wird im System Gasperinis die meiste Freiheit zugestanden. Sie lassen sich fallen, um Bälle zu holen, weichen auf die Flügel aus, um dort für eine Überzahlsituation zu sorgen, oder laufen immer mal wieder in die Spitze, vor allem dann, wenn Stürmer Zapata zur Seite ausweicht oder sich etwas fallen lässt.
Diese zwei Spieler sind für die Gegner deshalb jeweils äusserst schwierig auszurechnen. In dieser Saison wusste dies vor allem Mario Pasalic auf beeindruckende Art und Weise auszunutzen. Der Kroate kommt in dieser Serie-A-Saison in 13 Spielen auf zehn Torbeteiligungen. Dazu hat er in der Liga von allen offensiven Mittelfeldspielern pro 90 Minuten die meisten erfolgreichen Pässe, die meisten gewonnenen Luftduelle und die meisten Ballkontakte sowohl im defensiven als auch im mittleren Drittel.
Im Winter 2021 kam es für die Atalanta-Fans zum Schock: Nach einem Streit mit Trainer Gasperini verliess Klubikone und Captain Alejandro Gomez Bergamo nach über sechs Jahren. Gomez war davor einer der Leistungsträger der Norditaliener gewesen, in seiner letzten ganzen Saison für Atalanta kam er in 36 Spielen auf 23 Torbeteiligungen. So stellte sich in Italien die grosse Frage: Wie gross ist die Lücke, die Gomez in Bergamo hinterlässt?
Knapp ein Jahr später kann festgehalten werden: Überhaupt nicht gross. Denn während Atalanta die letzte Saison auf dem dritten Platz beendete und jetzt erneut auf einem Champions-League-Platz liegt, kommt Gomez in seinen bisherigen 34 Spielen für Sevilla nur auf fünf Torbeteiligungen.
Damit hat sich gezeigt: Die Stärke von Atalanta ist das System. Auf fast jeder Position bereits ein Akteur mit ähnlichen Qualitäten wie der Stammspieler unter Vertrag, somit kann jeder Spieler ersetzt werden. So übernahm Ruslan Malinowskyj, ein Ukrainer, der ebenfalls klein und wirblig und mit einer hervorragenden Technik ausgestattet ist, kurzerhand die Rolle von Gomez und setzte dort fort, wo der Argentinier aufgehört hatte.
Ähnliches bewies Atalanta auch im Sommer, als Cristian Romero durch Merih Demiral optimal ersetzt werden konnte. Und auch in den Jahren zuvor lassen sich mehrere Beispiele finden: Romero selbst ersetzte 2020 Gianluca Mancini, welcher einst Mattia Caldara beerbt hatte, Marten de Roon folgte nahtlos auf Bryan Cristante und auf den Aussenpositionen beerbten Robin Gosens und Hans Hateboer die beiden Italiener Leonardo Spinazzola und Andrea Conti. In keinem dieser Fälle hatte man das Gefühl, dass Bergamo einen Ersatz nicht ebenbürtig ersetzt hat.
Dies ist eine weitere Stärke Atalantas, welche die Norditaliener zu einem unbequemen Gegner macht. Auch wenn ein Spieler mal ausfällt oder während eines Spiels ausgewechselt wird, steht gleich ein Ersatz bereit, der weiss, wo sein Platz ist und was er zu tun hat. Damit kann Atalanta seine kräfteraubende Spielweise gut auch 90 Minuten lang durchziehen, vor allem seitdem fünf Wechsel erlaubt sind.