Die 16'000 Fans im Saarbrücker Ludwigspark konnten ohnehin schon kaum glauben, was sich vor ihren Augen abspielte. Da hält der 15. der 3. Liga über 90 Minuten mit dem grossen FC Bayern mit und steht kurz davor, diesen in die Verlängerung zu zwingen. Und plötzlich geschieht das Unfassbare: In der 96. Minute greift der krasse Aussenseiter noch einmal an, der Pass in den Strafraum ist zielgenau gespielt, Marcel Gaus zieht ab und schiesst ganz Saarbrücken in Ekstase.
Wenig später beendet der Schiedsrichter die Partie und dem 1. FC Saarbrücken ist die grosse Sensation gelungen: den deutschen Rekordmeister in der 2. Runde des DFB-Pokals zu bezwingen. Erstmals seit 23 Jahren und der Niederlage im Elfmeterschiessen gegen den 1. FC Magdeburg ist der FC Bayern an einem Klub, der nicht in den obersten beiden Ligen spielt, gescheitert.
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— DFB-Pokal (@DFB_Pokal) November 1, 2023
Neben der Freude über den sensationellen Erfolg war bei einigen Saarbrücken-Fans auch die Schadenfreude über das Scheitern des haushohen Favoriten riesig. Dies mussten unter anderem Manuel Neuer und Joshua Kimmich am eigenen Leib erfahren.
Der Bayern-Goalie, der am Samstag beim 8:0-Sieg gegen Darmstadt nach fast einem Jahr Pause aufs Feld zurückkehrte, wurde noch auf dem Rasen verhöhnt. Bei Kimmich verzögerte sich dann die Abfahrt wegen der Feiermeute um einige Minuten.
Je pense que #Kimmich voulait tous les démarrer hier soir à Saarbrücken mdr … #FCBayern pic.twitter.com/qhosfa6XEW
— › Jɵrdań ☨ (@Gia2noFCBM) November 2, 2023
Der Münchner Trainer Thomas Tuchel konnte das Ausscheiden nicht wirklich begründen, wie er nach dem Spiel sagte: «Ich habe keine Erklärung. Keine schlaue.» Zwar habe sein Team auch diesen Wettbewerb sehr ernst genommen und unbedingt nach Berlin, wo der Final ausgetragen wird, gewollt, doch habe es vor allem in der ersten Halbzeit keine gute Leistung gezeigt.
Nach der Niederlage fielen dem 50-Jährigen auch vor der Partie gemachte Aussagen auf die Füsse. Tuchel hatte zu den Diskussionen, ob das Zweitrunden-Spiel angesichts der vielen Niederschläge und des in Mitleidenschaft gezogenen Rasens überhaupt stattfinden könne, gesagt: «Mir geht es eher um die Reise, die uns mehr in den Knochen stecken würde als das Spiel an sich.»
Dies wird ihm nun ebenso als Arroganz ausgelegt wie die Tatsache, dass er mehrere Stammkräfte erst nach einer Stunde einwechselte oder wie im Fall von Harry Kane gar nicht erst einsetzte. Dabei hatte Tuchel im Vorfeld noch angekündigt, niemanden schonen zu wollen. Gerade Kane sei «ein Spieler, der es gewohnt ist, viel zu spielen». Dennoch sass der Engländer über 90 Minuten auf der Bank, obwohl er anders als Jamal Musiala oder Kingsley Coman nicht angeschlagen war. Tuchel lieferte die Erklärung: «Wir hatten nur noch einen Wechsel und ich wollte bis zur Verlängerung warten, falls es eine gibt.»
Von Bayern-Urgestein Thomas Müller gab es erstmal ein grosses Lob an den Gegner, der «ein gutes Spiel gemacht und alles reingeworfen hat». Ansonsten könne Bayern in Saarbrücken gar nicht verlieren. Dennoch empfand der 34-Jährige es nicht so, als seien er und seine Kollegen fahrlässig gewesen: «Wir waren vor allem in der zweiten Halbzeit drückend überlegen. Irgendwie wollte der Ball aber nicht rein.»
Am Ende seien es dann einige Szenen, die auf die andere Seite kippen müssten. Eine davon passierte in den letzten Sekunden des Spiels, als der Schuss von Serge Gnabry einem Verteidiger an den Ellbogen sprang. In den Augen von Müller ein Elfmeter – wenn es einen Videobeweis gegeben hätte. Dennoch findet der Torschütze zum 1:0: «Wir müssen uns natürlich den Schuh anziehen, dass die Saarbrücker überhaupt solche Chancen kriegen.»
Noch klarer fällt die Kritik jedoch am Verhalten seiner Mitspieler nach der Partie aus. Dass sich neben ihm gemäss Sky nur Kimmich, Leroy Sané, Mathys Tel und Bouna Sarr bei den mitgereisten Fans bedankten, stiess Müller sauer auf. «Es ist das Mindeste, dass man versteht, etwas zurückzugeben», erklärte er nach der Partie und fügte an: «Da werden wir in Zukunft auch ein anderes Gesicht zeigen. Das geht natürlich nicht so.»
Auf Instagram entschuldigte er sich im Anschluss erneut bei den Fans für das Verhalten des Teams und sandte mit Blick auf das Duell vom Samstag eine Ansage an den BVB, bei dem es einigen Anhängern der Dortmunder mit Blick auf vergangene Spiele schon wieder angst und bange werden könnte. «Vielleicht ist der ‹Klassiker› das perfekte Spiel, um die Dinge geradezurücken», mutmasste Müller.
Doch bis am Samstag dürften einige Probleme bei den Bayern nicht zu lösen sein. Die Kader-Situation bildet für Tuchel nach wie vor eine Herausforderung – zumal sich mit Matthijs de Ligt in Saarbrücken ein weiterer Verteidiger verletzte. Kim Min-jae ist derzeit der einzige fitte Innenverteidiger. Dayot Upamecano ist zwar wieder im Training, doch ist noch fraglich, ob er in Dortmund einsatzbereit ist.
Auch im Mittelfeld muss der FCB auf die schnelle Genesung einer Stammkraft hoffen: Leon Goretzka laboriert noch an einem Handbruch und ist für den Samstag fraglich. Dazu kommt die Sperre gegen Joshua Kimmich, der gegen Darmstadt früh die Rote Karte sah. Einzig in der Offensive kann Tuchel wohl auf eine volle Kapelle um Harry Kane und Leroy Sané hoffen.
Diese wird in Dortmund umso mehr gefragt sein. Denn der BVB hat sich unter Edin Terzic wieder zu einer Heimmacht entwickelt. Im Westfalenstadion sind die Borussen seit August 2022 in 26 Spielen ungeschlagen, beim 1:0-Erfolg im Pokal-Achtelfinal gegen Hoffenheim hielt Gregor Kobel im siebten Heimspiel der Saison zum fünften Mal die Null. Aus Dortmunder Sicht gäbe es wohl keinen besseren Zeitpunkt, um den ersten Bundesliga-Heimsieg gegen den Erzrivalen seit 2018 zu feiern.
Doch auch – oder vor allem – in Dortmund ist bekannt: Nach einem Rückschlag ist Bayern München am gefährlichsten.
Die gewinnen gegen Dortmund mit 6:0 und eine Woche später fliegt Tuchel…