Wer es als Fussballer schafft, sowohl beim FC Schalke 04 wie auch bei Borussia Dortmund ein Held zu sein, der ist wahrlich etwas Besonderes. Schliesslich ist die Rivalität der beiden Ruhrpott-Giganten legendär. Jens Lehmann stand bei beiden Klubs lange im Tor und gewann mit ihnen Titel. Schon das macht ihn zu einer speziellen Figur – seine Taten auf und neben dem Platz, positiver wie negativer Art, leisteten ihr Übriges dazu, dass er den Spitznamen «Mad Jens» erhielt.
Die jüngste Episode soll sich Anfang Woche ereignet haben. Lehmann löste einen Nachbarschaftsstreit auf seine Art, griff zur Kettensäge und machte sich daran, die Dachbalken der Garage des Nachbars zu durchtrennen. Die Garage nahm Lehmann die schöne Sicht auf den Starnberger See.
Ein Rückblick auf Momente, in denen Torhüter Jens Lehmann für Aufsehen gesorgt hat:
Der Schalke-Torhüter kassiert gegen Leverkusen drei Tore in sieben Minuten, zur Pause wechselt ihn Trainer Jörg Berger aus. Lehmann duscht und fährt, während draussen seine Kollegen spielen und 1:5 verlieren, mit der S-Bahn heim. Später erklärt er: «Berger sagte mir: ‹Wir sehen uns morgen.› Was bedeutet: ‹Geh nach Hause.›»
Schalke 04 gelingt als Aussenseiter ein kleines Fussballwunder. Die «Eurofighter», angeführt von Jens Lehmann, Olaf Thon und Marc Wilmots, setzen sich im Final gegen Inter Mailand (mit Ciriaco Sforza und Ivan Zamorano) durch und holen den UEFA-Cup.
Lehmann gewinnt die prestigeträchtige Auszeichnung für das «Tor des Monats». Als erster Torhüter der Bundesliga-Geschichte hat er aus dem Spiel heraus getroffen. Im Revierderby rettet er Schalke mit seinem Kopfballtreffer in letzter Minute zum 2:2 gegen den BVB einen Punkt. «Das war mein schönster Moment im Fussball», sagt Lehmann im Rückblick. «Aber nicht, weil es Dortmund, sondern ein wichtiges Tor war. Als Torhüter hat man die Befreiung immer erst am Ende des Spiels. Aber wenn du ein Tor schiesst, passiert diese Befreiung unmittelbar.
Im Sommer 1998 versucht Lehmann sein Glück in Italien, doch bei der AC Milan findet er es nicht. Schon nach einem halben Jahr kehrt er zurück – und unterschreibt nach einem Jahrzehnt auf Schalke bei Borussia Dortmund. Ein Wechsel, den längst nicht jeder Fan von einem der zwei Rivalen goutiert.
Lehmann fällt regelmässig durch aggressives Verhalten auf und fliegt auch öfter vom Platz. Mal greift er Ulf Kirsten an die Nase, mal rempelt er Giovane Elber mit dem Ellbogen. Für ein Nachtreten gegen Soumaila Coulibaly wird er für vier Spiele gesperrt.
Wenn er spielen darf, ist Lehmann seinem Team ein sicherer Rückhalt. Dank einem Endspurt überholt der BVB noch Bayer Leverkusen und wird deutscher Meister.
Wieder einmal ein Revierderby, das 2:2 ausgeht – aber Lehmann erlebt das Ende nicht mehr auf dem Platz mit. Er sieht in der 80. Minute Gelb-Rot, weil er sich mit seinem Mitspieler Marcio Amoroso anlegt.
«Sag beim Abschied leise Servus» heisst ein Hit von Peter Alexander, doch Lehmann mag es lieber mit Pauken und Trompeten. Sein letztes Spiel für Borussia Dortmund ist im Sommer der Halbfinal im Ligapokal, in dem er nach 16 Minuten für ein Foul am Stuttgarter Kevin Kuranyi Rot sieht – schon sein fünfter Platzverweis als BVB-Keeper. Eine Woche später unterschreibt Lehmann bei Arsenal.
In London schlägt Lehmann voll ein. Er spielt jede Sekunde der Saison, kommt mit bloss zwei Gelben Karten durch und wird Teil einer legendären Mannschaft: der «Invincibles». Arsenal wird ungeschlagen Meister.
Als Mittdreissiger erlebt Lehmann in diesen Jahren seine wohl beste Zeit als Torhüter. In der Saison nach der Meisterschaft gewinnt er mit Arsenal auch den FA Cup. Im Final (mit Philippe Senderos vor ihm in der Abwehr) gegen den Rivalen Manchester United kommt es nach torlosen 120 Minuten zum Penaltyschiessen, Lehmanns Parade gegen Paul Scholes gibt den Ausschlag.
Vier Turniere lang muss Lehmann im Nationalteam hinten anstehen. Dann wird Jürgen Klinsmann Bundestrainer, erklärt den Kampf um den Stammplatz im Tor für offen – und entscheidet sich vor der WM 2006 in Deutschland gegen Oliver Kahn und für Jens Lehmann. Beim «Sommermärchen» der DFB-Elf, die eher überraschend in die Halbfinals vorstösst, hat Lehmanns Spickzettel eine wichtige Rolle: Dank diesem wird er im Viertelfinal im Penaltyschiessen gegen Argentinien zum Matchwinner. Zwar kann Lehmann die Informationen nur schwer entziffern, aber die argentinischen Schützen lassen sich davon beeinflussen. Der Spickzettel wird später für einen guten Zweck versteigert, er bringt eine Million Euro ein.
Es geht abwärts. Lehmann verliert seinen Stammplatz bei Arsenal, kann ihn sich nicht wieder erobern. Im Sommer 2008 wechselt er zurück in die Bundesliga, hütet das Tor des VfB Stuttgart.
Nach missratener Vorrunde dreht der VfB auf und qualifiziert sich für die Champions League. Lehmann sorgt neben dem Platz für Aufsehen, weil er mittlerweile am Starnberger See wohnt – und regelmässig mit dem Helikopter zum Training fliegt. Der Lärm nervt die anderen Dorfbewohner. 1000 Euro kostet den Millionär ein Weg.
Als Hoffenheims Sejad Salihovic seinen rechten Schuh verliert, schnappt ihn sich Lehmann und wirft ihn auf das Tornetz. Lehmann rechtfertigt sich: Der Schuh sei im Strafraum gelegen, da müsse er doch weg. Wenn ein Ball komme, vom Schuh abgefälscht werde und ins Tor fliege, sehe er dämlich aus. «Also musste ich irgendetwas mit dem Schuh machen.» Dass er nach dem Wurf auf dem Netz gelandet sei, habe er gar nicht gemerkt.
Im Champions-League-Spiel gegen Unirea Urziceni (3:1) verspürt Lehmann Druck auf der Leitung. Also kauert er während der Partie hinter eine Werbebande und lässt die Dinge ihren natürlichen Lauf nehmen. «Er war auf jeden Fall hinterher erleichtert», schmunzelt Franz Beckenbauer als TV-Experte.
Wieder mal sieht Lehmann Rot. Damit nicht genug: Beim Spiessrutenlauf nach dem Spiel an Fans vorbei schnappt sich der Goalie die Brille eines Zuschauers. «Geht's einmal normal, Herr Lehmann?», fragt dieser und verliert daraufhin die Sehhilfe. Was für eine absurde Szene!
Nach dem ersten Rücktritt ein Jahr zuvor hilft Lehmann als 41-Jähriger noch einmal für einige Monate bei seinem Ex-Klub Arsenal aus. Am 10. April 2011 bestreitet der Keeper bei einem 3:1-Sieg in Blackpool sein letztes Profispiel. Nach rund 850 Einsätzen, darunter 61 Länderspiele, ist Schluss.
Bei Stuttgart spielte Lehmann mit Thomas Hitzlsperger zusammen, der sich nach seinem Rücktritt zur Homosexualität bekannte. In einer Talkshow redet sich Lehmann um Kopf und Kragen, antwortet auf die Frage, wie er reagiert hätte, wenn das Outing noch während der gemeinsamen Aktivzeit erfolgt wäre: «Komisch, glaube ich. Man duscht jeden Tag zusammen, man hat Phasen, in denen es nicht so läuft. Aber Thomas Hitzlsperger ist ein Spieler, der erstens sehr intelligent ist und zweitens von seiner Spielweise überhaupt nicht den Anlass gegeben hätte, dass man da hätte denken können, da ist irgendetwas.»
In der Corona-Pandemie gerät Lehmann in den Verdacht, ein Schwurbler zu sein. Er vergleicht die Sterblichkeit von Covid-19 mit einer aggressiven Grippe, die Deutschland 2017 heimgesucht habe. «Niemand hat das überhaupt zur Kenntnis genommen», meint er, ehe er seinen Tweet wieder löscht.
Lehmann verschickt eine WhatsApp-Nachricht, in der er über Dennis Aogo, Ex-Nationalspieler und nun TV-Experte bei Sky, lästert: «Ist Dennis eigentlich euer Quotenschwarzer? 😀» Das wird öffentlich, weil Lehmann die Nachricht über Aogo versehentlich an Aogo schickt. Hertha-Investor Lars Windhorst wirft Lehmann darauf aus dem Aufsichtsrat der Berliner, die Laureus-Stiftung beendet ihre Zusammenarbeit mit ihrem Botschafter Lehmann. Aogo akzeptiert eine Entschuldigung und sagt, jeder verdiene eine zweite Chance.
Zwei Tage vor seinem Einsatz mit der Kettensäge erscheint in der «Schweiz am Wochenende» ein längeres Interview mit Jens Lehmann. Er sei als Mensch «wahrscheinlich völlig anders, als er medial dargestellt wird», sagt der 52-Jährige. «In Deutschland verkauft es sich super, wenn Prominente negativ abgebildet werden. Das mit Aogo war ja auch toll für die Medien.»
Lehmann bezeichnet sich als «zuverlässigen, sehr loyalen und disziplinierten Menschen» – und er sagt, dass er gerne wieder als Trainer arbeiten würde. Bislang war er Co-Trainer bei Arsenal und dem FC Augsburg. Zuletzt schloss er ein Sportmanagement-Studium an der HSG in St.Gallen ab.