Es ist noch nicht zwei Jahre her, als die Bieler an einem guten Abend das dynamischste, schwungvollste Tempohockey der Liga, ja vielleicht Europas, zelebrierten. Ein Spiel wie die Musik von Ludwig van Beethoven: ein bisschen verspielt wie Mozart, aber mit immer wieder völlig überraschenden Wendungen und einem dramatischen Finale zustrebend und komponiert mit hoher Disziplin und fast wissenschaftlichem Ernst.
Nehmen wir als Beispiel das Drama vom 26. März 2023 in Bern. Es endet auch mit einem 4:3 für die Bieler und der wahrlich dramatische Höhepunkt ist das 4:3 nach 59:58 Minuten von Mike Künzle. Biels Spiel ist wie Video-Schauen im Internet mit Glasfaser-Verbindung von allerhöchster Qualität. Nichts stört den Fluss und Genuss. Der SCB verliert nicht nur das Spiel. Sondern auch zum ersten Mal in der Geschichte eine Playoff-Serie gegen den Kantonsrivalen, und der Sturmlauf der Bieler wird erst im 7. Finalspiel von Servette gestoppt.
Nun hat Biel am Donnerstag erneut in Bern gewonnen. Wieder 4:3. Aber es ist ein gänzlich anderes Biel. Die Dynamik, die schwungvolle Harmonie, die «Puck-Stafetten» gibt es nicht mehr. Oder sie blitzen nur noch in lichten Momenten auf. Die Taktik, die harte Arbeit hat das Primat über die Kunst und die spielerische Leichtigkeit des Seins. Geblieben ist die Leidenschaft.
Warum dieser Stilwechsel? Weil eine neue Mannschaft aufgebaut wird. Am 26. März 2023 spielen der fliegende Verteidiger Yannick Rathgeb (heute Gottéron), Leitwolf Gaëtan Haas (zurzeit verletzt), der bissige Tino Kessler (heute Davos), der Powerstürmer Mike Künzle (heute Zug) oder NHL-Star Nico Hischiers «kleiner» Bruder Luca Hischier (heute Servette) die ersten Geigen.
Aktuelle
Note
7
Ein Führungsspieler, der eine Partie entscheiden kann und sein Team auf und neben dem Eis besser macht.
6-7
Ein Spieler mit so viel Talent, dass er an einem guten Abend eine Partie entscheiden kann und ein Leader ist.
5-6
Ein guter NL-Spieler: Oft talentierte Schillerfalter, manchmal auch seriöse Arbeiter, die viel aus ihrem Talent machen.
4-5
Ein Spieler für den 3. oder 4. Block, ein altgedienter Haudegen oder ein Frischling.
3-4
Die Zukunft noch vor sich oder die Zukunft bereits hinter sich.
Die Bewertung ist der Hockey-Notenschlüssel aus Nordamerika, der von 1 (Minimum) bis 7 (Maximum) geht. Es gibt keine Noten unter 3, denn wer in der höchsten Liga spielt, ist doch zumindest knapp genügend.
Punkte
Goals/Assists
Spiele
Strafminuten
Er ist
Er kann
Erwarte
Das Biel im Herbst 2024 hat mit dem Biel des Frühjahres 2023 noch so viel zu tun wie Beethovens Melodien mit dem Feierabend-Gesang von Marco Pfeuti (Gölä). Verteidiger Luca Christen, im Frühjahr 2023 noch nicht gut genug für einen Platz im Team, muss jetzt als Defensiv-Center den vierten Block zusammenhalten.
Und doch siegt Biel 4:3. Weil dann, wenn die Internetverbindung gerade nicht ruckelt, noch immer spielerisches Genie aufblitzt. Beispielsweise das von Luca Cunti. Es ist erst sein 5. Saisonspiel. Wieder einmal hatte er wegen Blessuren gefehlt: Er war im Training in die Bande gekracht und hatte eine Gehirnerschütterung erlitten. Aus dem WM-Silberhelden von 2013, dem Meister mit den ZSC Lions von 2012 und 2014 ist ein zerbrechlicher Schillerfalter geworden, den immer und immer wieder Verletzungen plagen, und er sagt, er könne sich kaum noch an eine verletzungsfreie Saison erinnern. Aber noch immer ist er dann, wenn er mitspielen kann, einer der kreativsten, elegantesten Stürmer der Liga.
Über all die Jahre hat er die Scheiben als Mittelstürmer verteilt. Das Spiel gemacht, wie es so schön heisst. Und nun lässt ihn Biels neuer Trainer Martin Filander erstmals seit Menschengedenken als Flügel auf den Aussenbahnen laufen. Mittelstürmer Lias Andersson orchestriert die Flügelzange Fabio Hofer / Luca Cunti. Das Trio beendet die Partie in Bern mit einer Plus-2-Bilanz. Luca Cunti erzielt das 3:2, Lias Andersson das 1:1 und assistiert zum 4:3, Fabio Hofer gibt den Pass zum 1:1. Das Trio funktioniert.
Luca Cunti im Spätherbst seiner Karriere als Flügel? Warum nicht. Er fühlt sich wohl auf der neuen Position. Bald stehen wichtige Entscheidungen an. Sein Vertrag läuft Ende Saison aus. Die grosse Frage: Weitermachen oder Rücktritt? «Das kann ich noch nicht sagen.» Das komme ja auch darauf an, ob ihm von einem Klub ein Vertrag angeboten werde.
Der Entscheid wird also vertagt. Familienrat wird wohl auch noch gehalten. Er wird im Januar zum dritten Mal Vater. Ohnehin hat er ja seine Zeit nach dem Eishockey längst aufgegleist: Er studiert Psychologie. Bald stehen weitere Prüfungen und die Masterarbeit an. Die Kombination ist vielversprechend: ein sensibler Hockey-Künstler als Kabinen-Psychologe? Er sagt, das sei denkbar. Psychologie könne ja auf verschiedenste Fachgebiete angewendet werden. Macht er jetzt schon «Feldstudien» in der Kabine und analysiert sozusagen wissenschaftlich Reaktionen und Aktionen des Trainers oder der Mitspieler? «Das nicht gerade. Aber die Beschäftigung mit Psychologie öffnet den Horizont.»
Nun denn: Damit Biel auch bei ruckelndem Spiel funktioniert, sind die spielerischen Geistesblitze der Künstler von zentraler Bedeutung. Erst Luca Cuntis Tor zum 3:2, Toni Rajalas Kunstschuss zum 4:3 und Harri Säteris Paraden (93,48 Prozent Fangquote) haben den Triumph vom Donnerstag in Bern möglich gemacht. Drei alte Künstler, die gemeinsam mehr als 100 Jahre aufs Eis bringen und schon beim 4:3 am 26. März 2023 in Bern eine Hauptrolle gespielt haben: Harri Säteri wird im Dezember 35, Toni Rajala ist im März 33 und Luca Cunti im Juli 35 geworden. Genie rostet so wenig wie Beethovens Musik.