So wie weder Nobelpreisträger noch Geflügelzüchter oder Evolutionsforscher zu sagen vermögen, ob das Huhn oder das Ei eher gewesen sei, so gibt es eine ganz ähnliche Fachdiskussion im Eishockey: Steht am Anfang jeder grossen Mannschaft ein grosser Torhüter oder macht erst eine grosse Mannschaft einen Goalie gross? Wenn wir die Karriere von Leonardo Genoni betrachten, dann neigen wir zur Auffassung: Es ist der Goalie, der die Mannschaft gross macht. Wo Leonardo Genoni im Kasten steht, da werden Titel gefeiert: in Davos, in Bern und zuletzt zweimal in Zug. Oder ist es so, dass er mit schlauer, ja weiser Karriereplanung stets dorthin gewechselt hat, wo eine grosse Mannschaft den Goalie gross macht?
Noch vor dem ersten Meisterschaftsspiel hat sich Leonardo Genoni eine Blessur zugezogen. Wann er zurückkehren wird, ist noch offen. Sein Trainer Dan Tangnes sagt: «Er hat bisher noch nie mit der Mannschaft auf dem Eis trainiert. Im besten Fall können wir nach der Nationalmannschaftspause wieder mit ihm rechnen. Aber es kann auch sein, dass er erst später wieder zurück sein wird.»
Ohne den WM-Finalgoalie – auch da die Frage: Sind die Schweizer dank Leonardo Genoni 2018 und 2024 in den Final gekommen oder ist er dank seinen Vordermännern zweimal WM-Finalheld geworden? – haben die Zuger bloss vier der ersten zehn Partien gewonnen. Die Erklärung schien einfach: Es geht eben nicht ohne Leonardo Genoni. Sein Ersatz Tim Wolf musste sich zwischendurch ja tatsächlich die Statistiken eines «Lottergoalies» notieren lassen. Etwa 79,31 Prozent beim 2:6 gegen Davos oder gar 76,92 Prozent beim 3:6 in Lausanne. Bei solchen Fangquoten wäre selbst mit dem lieben Gott im Sturm und dem Satan an der Bande ein Sieg nicht möglich.
Aber inzwischen zeigt sich: Es kann eben auch sein, dass Tim Wolf beim harzigen Saisonstart mehr «Opfer» als «Täter» war. Dass bei ihm lediglich die Summe der Nachlässigkeiten seiner Vordermänner abgerechnet worden ist. Dass die Mannschaft den Goalie gross macht und nicht umgekehrt.
Aktuelle
Note
7
Ein Führungsspieler, der eine Partie entscheiden kann und sein Team auf und neben dem Eis besser macht.
6-7
Ein Spieler mit so viel Talent, dass er an einem guten Abend eine Partie entscheiden kann und ein Leader ist.
5-6
Ein guter NL-Spieler: Oft talentierte Schillerfalter, manchmal auch seriöse Arbeiter, die viel aus ihrem Talent machen.
4-5
Ein Spieler für den 3. oder 4. Block, ein altgedienter Haudegen oder ein Frischling.
3-4
Die Zukunft noch vor sich oder die Zukunft bereits hinter sich.
Die Bewertung ist der Hockey-Notenschlüssel aus Nordamerika, der von 1 (Minimum) bis 7 (Maximum) geht. Es gibt keine Noten unter 3, denn wer in der höchsten Liga spielt, ist doch zumindest knapp genügend.
Punkte
Goals/Assists
Spiele
Strafminuten
Er ist
Er kann
Erwarte
Aber so einfach ist die «Hühnerfrage» nicht zu beantworten. In den letzten drei Partien hat Tim Wolf statistische Werte erreicht, die selbst einem Leonardo Genoni zur Ehre gereichen. Gegen Lugano (5:1) hat er 97,44 Prozent der Pucks abgewehrt, gegen Servette (5:1) 95,00 Prozent und nun in Langnau (4:0) gar zum ersten Mal in dieser Saison 100 Prozent.
Haben die Zuger defensiv konzentrierter gespielt und ihren Goalie gross gemacht? Zumindest beim 4:0 in Langnau ist die Antwort klar: Es ist der Goalie, der die Mannschaft gross macht und den Sieg zu «stehlen» vermag. Selbst seine prominenten Vordermänner leisten sich zwischendurch haarsträubende Fehler. Gut, dass die Zuger zum Auftakt auf den Beistand der Hockey-Götter zählen können: Schiedsrichter Ken Mollard pfeift zu früh ab. Das 1:0 von Joshua Fahrni zählt nicht. Ein Treffer, der vielleicht – aber eben nur vielleicht – bei den Langnauern die dringend notwendigen Energiereserven und bei den Zuger Nervosität freigesetzt hätte.
Aber dann wird Tim Wolf zum Helden des Abends. Er hält einfach jeden Puck. Irgendwie. Er ist kein ruhiger, eleganter Stilist wie Leonardo Genoni. Aber es geht nicht um Stilnoten. Es ist mit ziemlicher Sicherheit Tim Wolfs bisher bester Match mit Zug. Erst in den letzten Minuten, als alles längst entschieden ist, als die Langnauer mit Leidenschaft wenigstens den Ehrentreffer erzielen wollen, da ist es die Mannschaft, die den Goalie gross macht: Mit einer Entschlossenheit, als gehe es um die Verteidigung eines Ein-Tore-Vorsprungs helfen alle mit, ihrem letzten Mann den ersten «Shutout» (Fachausdruck für Spiel ohne Gegentreffer) der Saison zu vollenden. Tim Wolf ist der fleissigste Goalie der Liga. Der einzige, der für sein Team alle Partien bestritten hat.
Tim Wolf ist also der Vater des Sieges in Langnau. Der Torhüter, der seine Mannschaft gross macht. Auch beim Verlierer spielt der Torhüter eine wichtige Rolle. Die Frage ist zwar berechtigt: Hatten die Langnauer nach dem heroischen Ringen am Mittwoch gegen den SC Bern (2:1 n. V.) und am Freitag in Fribourg (3:2 n. P.) einfach gegen Zug nicht mehr genug Energie, um Luca Boltshauser zum grossen Goalie zu machen?
Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Ein Torhüter kann der wichtigste Energiespieler, eine Ladestation für die leeren Batterien sein. Wenn er mit wundersamen Paraden seinen Vordermännern Mut und Zuversicht gibt und dafür sorgt, dass sie ein bisschen grösser, schneller und kräftiger spielen, als sie eigentlich sind.
Langnaus Trainer Thierry Paterlini hat ein Geschenk der Hockey-Götter verschmäht. Sie haben ihm mit Stéphane Charlin den besten Goalie der Liga beschert (Fangquote 96,09 Prozent). Stéphane Charlin war der Vater, die Mutter, der Onkel, Tante, der Götti und die Gotte der Siege gegen den SCB (96,77 Prozent Fangquote) und Gottéron (95,56 Prozent, plus sieben Penaltys pariert). Selbst die NHL-Scouts auf der Tribüne haben sich verneigt. Er hätte die Langnauer vielleicht auch gegen Zug zum Sieg hexen können. Ein drittes Spiel in vier Tagen wäre vertretbar gewesen. Bis zur Nationalmannschaftspause stehen für die Langnauer nur noch die Partien in Davos oben (am Dienstag) und in Pruntrut hinten (am Samstag) auf dem Programm. Luca Boltshauser war gegen Zug kein grosser Goalie. Er konnte nur 82,61 Prozent der Schüsse abwehren.
Die Frage geht also an Thierry Paterlini: Warum nicht mit Stéphane Charlin gegen Zug? Sein Einsatz sei so abgesprochen gewesen. «Auch er hat diese Saison zuletzt sehr gut gespielt.» Wohl wahr: Zuletzt hatte die Nummer 2 gegen Kloten (0:2) 92,31 Prozent der Schüsse gehalten und das zweite Tor war ein Treffer ins verlassene Gehäuse. Kommt dazu: Es ist wichtig, dass Luca Boltshausers Ego gehegt und gepflegt, gebürstet und gekämmt wird. Nächste Saison ist Langnau auf ihn angewiesen. Stéphane Charlin wird nicht mehr zur Verfügung stehen.
Und was wäre gewesen, wenn Langnaus Trainer Stephane Charlin eingesetzt und trotzdem verloren hätte? Dann hiesse es jetzt: Thierry Paterlini hat den falschen Torhüter nominiert. Unverständlich, dass er Stéphane Charlin ein drittes Spiel in vier Tagen zugemutet hat. Mit dem ausgeruhten Luca Boltshauser wäre ein Sieg möglich gewesen. Und die ganz Schlauen hätten daran erinnert, dass die Langnauer vor gut einem Jahr, am 6. Oktober 2023 mit Luca Boltshauser im Tor die Zuger 3:2 gebodigt hatten.
So ist das halt. Hinterher ist jeder Chronist ein Meistertrainer und nach dem Gefecht jeder Soldat ein General. Und die «Hühnerfrage» – macht der Goalie die Mannschaft gross oder umgekehrt - bleibt weiterhin unbeantwortet.