So viel Selbstvertrauen muss sein. So viel Zuversicht ist nicht uneidgenössisch. Das «Operetten-Spiel» Schweiz gegen Frankreich mochte ich mir nicht antun. Drei Dinge sind an diesem Dienstag sicher: Unser Leben ist endlich, wir müssen Steuern bezahlen und wir besiegen Frankreich. Eine Niederlage gegen diese «Operetten-Franzosen» ist ganz einfach völlig unmöglich. Und so kommt es dann ja auch: Mit 5:1 haben sich die Schweizer fürs Viertelfinale gegen Finnland qualifiziert. Das Minimalziel ist erreicht.
Also bin ich mit der dänischen Eisenbahn nach Herning gefahren. Es ist der perfekte Spielplan: Finnland spielt hier gegen die USA um den Gruppensieg. Der Sieger dieser Partie spielt im Viertelfinale gegen die Schweiz. Oder aus Sicht der finnischen Hockey-Öffentlichkeit: um ein Freilos fürs Halbfinale. Eine wunderbare Gelegenheit, unseren Viertelfinalgegner «im scharfen Schuss» zu beobachten und ein wenig mit den finnischen Hockeyfreunden zu plaudern.
Gegen die Schweiz das Viertelfinale verlieren – ein Desaster. «Nein», sagt mein finnischer Chronisten-Kollege. «Es wäre eine Katastrophe».
Ja, so ist es. Die Frage ist aber: Woher kommt dieser Optimismus? Nun, in Finnland herrscht Freude über einen taktischen Frühling. Die letzten Jahre haben die Finnen mit defensivem Hockey gelangweilt, das unter Nationaltrainer Kari Jalonen (heute SCB) perfektioniert worden ist. Aus einem aufregenden, unberechenbaren Spiel auf rutschiger Unterlage ist oft ein berechenbares, langweiliges Puckgeschiebe geworden. Taktisch hochklassig und meist erfolgreich. Aber eben: zu wenig fürs Gemüt. Wir kennen das ja in Bern.
Aber Kari Jalonen ist ein unerbittlicher Perfektionist und macht so ziemlich jeden Spieler besser. Deshalb ist ihm das Defensivhockey in Finnland verziehen worden und deshalb verzeiht man es ihm in Bern.
Nationaltrainer Lauri Marjamäki – zuvor Jalonens Assistent – ist nach der letzten WM (1:4 im Halbfinale gegen Schweden, 3:5 im Bronze-Spiel gegen Russland) und dem olympischen Turnier (0:1 im Viertelfinale gegen Kanada) arg in die Kritik geraten. Schlimmer noch war das Hockey, das er spielen liess. Mindestens so defensiv und noch langweiliger als unter Kari Jalonen. Und auch noch erfolglos. Ihm hat man nicht verziehen.
Der jüngste finnische Nationaltrainer der Neuzeit ist nicht mehr so populär. Er hat gegen die Top-Teams der Welt in seiner zweijährigen Amtszeit vor dieser WM erst ein Spiel (gegen die USA) gewonnen. Nächste Saison übernimmt er Jokerit Helsinki und jetzt ist hier in Herning Wiedergutmachung angesagt. Resultatmässig und vor allem auch mit besserem, aktiverem, offensiverem, kreativerem Hockey.
Der Stilwechsel ist nicht ohne Risiko. Hier haben die Finnen die Spiele verloren, die sie hätten gewinnen müssen (gegen Dänemark und Deutschland) – und dafür die Partien gegen die Titanen spektakulär gewonnen. Gegen die Kanadier (5:1) und nun gegen die USA gleich 6:2.
In dieser letzten Partie um den Gruppensieg ist den Finnen das perfekte Spiel gelungen. Smart, blitzschnell in der Reaktion auf gegnerische Fehler, schon fast provozierend cool im Abschluss, gut gesteuert von enorm scheibensicheren Verteidigern – und abgesichert von Harri Sateri, einem Weltklassegoalie. Keine Chance für die Schweizer?
Die Sache ist nicht hoffnungslos. Meine Zugfahrt nach Herning war auch eine Reise der Hoffnung. Lauri Marjamäkis Stilwechsel, sozusagen «erzwungen» durch die öffentliche Hockeymeinung in Finnland, ist riskant und noch nicht abgeschlossen. Die wild, blind und unkonzentriert stürmenden Amerikaner waren der perfekte Gegner. Zumal ihr Torhüter miserabel war. Das 6:2 ein logisches Resultat. So einfach wird es gegen die Schweiz nicht sein.
Haben die Schweizer also eine Chance, zum ersten Mal seit 1988, seit dem Eröffnungsspiel des olympischen Turniers von Calgary unter Simon Schenk (2:1, Siegestreffer durch Köbi Kölliker), die Finnen zu bodigen? Ja.
Erstens haben die Schweizer auf dem Papier ein mindestens so gutes Team mit ebenso viel NHL-Power.
Zweitens sind die Finnen defensiv bei weitem nicht so stabil wie etwa die Schweden. Mit dem Tempo, der Wucht und dem Mut, den die Schweizer beispielsweise gegen Russland gezeigt haben, können sie diesen Gegner ins Wanken bringen.
Drittens unterschätzen die Finnen die Schweizer. Das scheint auf den ersten Blick nicht so. Lauri Marjamäki, ein charismatischer Kommunikator, mehr Lateiner als Finne, nimmt sich Zeit, um mit dem angereisten helvetischen Chronisten ein wenig zu plaudern.
Helvetischer Chronist: Haben Sie mit dem Sieg gegen die USA ein Freilos fürs Halbfinale gewonnen?
Lauri Marjamäki: Wie bitte?
Helvetischer Chronist: Ein Freilos fürs Halbfinale.
Lauri Marjamäki: Aha. Nein, nein, ganz und gar nicht. Die Schweizer haben ein so gutes Team und Leonardo Genoni ist ein so guter Torhüter …
Helvetischer Chronist: … er ist nur die Nummer zwei …
Lauri Marjamäki: So? Wer ist die Nummer eins?
Helvetischer Chronist: Reto Berra.
Lauri Marjamäki: Aha. Nein, wir unterschätzen die Schweiz ganz sicher nicht. Ich mag auch Coach Patrick Fischer und seinen Stil.
So geht es noch ein wenig hin und her und Lauri Marjamäki tut alles, um nicht etwa den Eindruck zu erwecken, er unterschätze die Schweizer. Durch und durch ein Profi. Schliesslich hat er lange genug mit Kari Jalonen gearbeitet. Ich höre seine Worte wohl, allein mir fehlt der Glaube.
Ich bleibe dabei: Die ganz grosse Chance ist und bleibt, dass die Finnen uns unterschätzen werden. Es ist in Finnland so unvorstellbar, gegen uns zu scheitern, wie für uns eine Niederlage gegen Frankreich unvorstellbar war.
Aber möglich wird die Sensation nur, wenn die Schweizer die grosse Schwäche unter Patrick Fischer endlich überwinden: die zu hohe Fehlerquote.