Der Chronist wollte eigentlich nur zum Spass zu einem Hockeyspiel und gar nicht chronisten. Eigentlich. Aber bald wird er ab dem Schauspiel melancholisch und am Schluss findet er sich in der internationalen Hockeypolitik wieder und chronistet doch.
Russland, das ewige, heilige Russland! Auf einmal sind die Reise-Bilder im Kopfkino wieder da. Der unendliche Himmel über der Taiga. Die ewigen Wälder Sibiriens. Die Einsamkeit der tagelangen Eisenbahnfahrten.
Showelemente gehören heute zu jedem Hockeyspiel wie Flöhe zur rebellischen Hauskatze. Aber das hier sprengt jeden Rahmen und ist selbst in der NHL unerreicht.
Vor der Partie ZSKA Moskau gegen Dinamo Riga tritt ein Geigenspieler auf. Der Mann aus Lettland füllt mit dem Klang seines virtuosen Spiels, mit seiner wehmütigen Musik aus dem Niemandsland zwischen Blues und Softrock, das Hallenstadion akustisch aus.
Das ist es, das Russland Lew Tolstois und Fjodor Dostojewskis. Über die Soundanlage läuft eine Begleitmusik, die an fernes Donnergrollen mahnt. An die eiserne Faust, die seit den Zeiten Iwan des Schrecklichen ebenso zu Russland gehört. Ilja Ehrenburg ist eben auch ein russischer Dichter.
Ein wenig Doktor Schiwago, ein wenig Rockkonzert: allein diese Vorstellung vor dem ersten Puckeinwurf wäre das Eintrittsgeld bei weitem wert (Chronisten sind gratis da). Und natürlich wird die lettische (für Dinamo Riga) und die russische Hymne (für ZSKA Moskau) nicht einfach abgespielt. Ein Opernsänger trägt die russische, eine Opernsängerin die lettische Hymne vor. Ach, so viel Kultur ums Hockey. «Das ist bei uns in der KHL Standard» sagt KHL-Vizegeneral Gregory Kobylyanski mit berechtigtem Stolz.
Dinamo Riga spielt zweimal im Zürcher Hallenstadion. Am Montag gegen SKA St.Petersburg (1:3) und nun am Mittwoch gegen ZSKA Moskau.
Rigas General Manager Zigmars Priede hat im Rahmen der «KHL-Westoffensive» («KHL World Games Zürich») zwei Meisterschafts-Heimspiele ins Zürcher Hallenstadion verlegt. Mit etwas mehr als einer Hundertschaft ist das lettische KHL-Unternehmen nach Zürich geflogen und gefahren. Sogar die Cheerleaderinnen sind mitgereist, um im Hallenstadion die Beine zu schwingen.
Es ist eine hochstehende Hockey-Zirkusvorstellung. Zirkus? Ja. ZSKA Moskau wird nicht gefordert. ZSKA Moskau ist einfach zu gut. Wieder auferstanden. Einst war es die Mannschaft der Roten Armee mit den Stars im Offiziersrang.
Nach dem Untergang der Sowjetunion fielen in den wilden Jahren der Veränderung die staatlichen Zuschüsse weg. Zeitweise musste sich der Klub mit den Einnahmen aus verruchten Nachtklubs finanzieren. Gut, musste Marschall Georgi Schukow das nicht mehr erleben.
Und nun erstrahlt Russlands ruhmreichste Mannschaft wieder in wunderbarem Glanz. Was damals die Armee, sind jetzt die Firmen der Oligarchen. Die Spieler sind Kapitalisten und Millionäre statt Majore und Obristen.
Eishockey so präzis, so schnell wie «The Big Red Machine» zu sowjetischen Zeiten. Welch eine Technik! Auch die Verteidiger Nummer fünf und sechs beherrschen die Kunst des Direktschusses wie bei uns lange Jahre nur Mark Streit.
Die Spielerleibchen und die Eisfläche sind nicht mit Werbung «zugepflastert» und beinahe so rein, klar und wahr wie zu sozialistischen Zeiten.
Der Hallenstadion-Speaker (er ist eigentlich mehr ein Animator und auch bei den ZSC-Heimspielen tätig), bringt es unbewusst bei seinen Ansagen auf den Punkt. Er sagt nicht «liebe Fans», wie bei den ZSC-Vorführungen. Er sagt: «Liebe Hockey-Experten.»
Ja, wir sind hier in der Hockey-Oper. Mit einem erlauchten Publikum. Unter Kennerinnen und Kennern.
Der Tabellenführer der KHL ist für Riga, die Nummer 14 der Liga, einfach eine Nummer zu gross. 5:0 heisst es am Ende. Der 14. Sieg in Serie. Auch ein 10:0 wäre möglich gewesen. ZSKA Moskau tanzt zeitweise, als wären sie die Harlem Globetrotter des Eishockeys.
Aber eigentlich ist das Resultat unerheblich. Es geht hier um viel mehr. Die KHL ist wahrlich ein Premium-Produkt. So hochklassiges Hockey bietet kein helvetisches oder skandinavisches Ensemble. Aber weniger als 5000 Frauen, Männer und Kinder sind gekommen, um diesen «Cirque de Soleil» auf Kufen zu sehen. ZSC-Manager Peter Zahner ist froh.
Die ZSC Lions haben nämlich mit diesem ganzen Spektakel nichts zu tun. Dinamo Riga hat das Hallenstadion gemietet. Zigmars Priede rühmt die Zusammenarbeit mit dem Hallenstadion, mit unserem Hockeyverband, mit verschiedenen Firmen in Zürich und mit der Ochsner Hockey Academy. Sie organisierte am Dienstag ein Masterclass-Training der KHL-Stars mit Kindern.
Nur die ZSC Lions werden nicht gerühmt. Gregory Kobylyanski sagt, er habe ZSC-Manager Peter Zahner offeriert, ein paar seiner Junioren mit den Spielern in die Arena einlaufen zu lassen. «Wir dachten, das würde den Kindern Spass machen. Immerhin sind ja mehrere Olympiasieger mit dabei. Aber sie durften nicht.»
Der Chronist mag das nicht glauben. Schliesslich ist Peter Zahner ein grosser Hockey-Europäer. «Doch», sagt der Vize-Chef des KHL-Spielbetriebes, kramt sein Smartphone hervor und zeigt seine Text-Kommunikation mit dem ZSC-Manager. Und tatsächlich. Schriftlich hat Peter Zahner mitgeteilt, es gehe leider wegen Teamüberschneidungen nicht und man solle halt ein andermal viel früher anfragen.
Peter Zahner präsidiert auch die Champions Hockey League, die bei uns einfach nicht funktionieren will und mit der KHL übers Kreuz liegt. Die KHL-Teams beteiligen sich nämlich nicht an der Champions Hockey League.
Nun geht dem Chronisten ein Licht auf, warum das alles so ist, wie es ist, und Peter Zahner die KHL nicht mag.
Die KHL ist ganz klar das bessere Produkt als die Champions Hockey League und kann mit dem paneuropäischen Wettbewerb nichts gewinnen. Sie will den europäischen Markt in Eigenregie erobern. Die KHL kann eine übermächtige Konkurrentin der Champions Hockey League werden. Mit der gewaltigen Finanzkraft der russischen Oligarchen im Rücken. Und sie bietet eine Werbeplattform für einen gewaltigen Markt von Riga bis Peking.
Gregory Kobylyanski deckt die Karten nicht auf. Das tun wahre Russen nie. Aber er bestätigt das Interesse am westeuropäischen Markt. Und warum nicht Zürich? Natürlich nicht mit einem hier stationierten KHL-Team. Das ginge dann doch zu sehr ins Geld. Aber warum nicht jedes Jahr mit ein paar Gastspielen wie in dieser Woche?
2022 werden die ZSC Lions voraussichtlich das Hallenstadion für immer verlassen und in die eigene, nigelnagelneue Arena umziehen. Aber die Eisaufbereitungsanlage des Hallenstadions wird nicht ausgebaut. Eishockey kann dem werten Publikum weiterhin dargeboten werden.
Warum nicht neben «Disney on Ice» oder «Art on Ice» ein paar KHL-Spiele als fester Bestandteil des Winterprogrammes? Mit guter Vermarktung müsste es möglich sein, die aktuellen Zuschauerzahlen (4178 am Montag, 4698 am Mittwoch) mindestens zu verdoppeln.
An dieser Vermarktung haben die ZSC Lions natürlich kein Interesse. Gregory Kobylyanski sagt, es sei nicht einmal möglich gewesen, am letzten Sonntag im Rahmen des Spiels ZSC Lions gegen Davos Werbung für die beiden KHL-Partien zu machen. «Wir haben es vergeblich versucht.» Und Zigmars Priede ergänzt, man habe gespürt, dass man bei den Lions nicht willkommen sei.
Ein Zaungast fragt Peter Zahner, warum er denn nicht 5000 Tickets als Weihnachtsgeschenk für die ZSC-Saisonkarteninhaber gekauft habe. Das wäre doch gerade zur Kundenbindung ein originelles Präsent gewesen. Er entgegnet freundlich, für solchen Unsinn könne man kein Geld ausgeben und empfiehlt dem Fragesteller, doch den Arbeitgeber zu fragen, ob der eventuell interessiert sei. Er verabschiedet sich nach zwei Dritteln und macht sich auf den Heimweg. Er wolle am Fernsehen noch ein wenig Champions League gucken. Natürlich nicht Partien der Champions Hockey League, die er präsidiert. Sondern der Champions League im Fussball.
Zürich für die KHL erobern? Das Zürcher Hallenstadion als «westliches Schaufenster» für die KHL? Zigmars Priede weiss um die Besonderheiten des helvetischen Hockeymarktes. Er weiss, dass die Fans eine emotionale Bindung an Spieler, an ein Team brauchen.
Er kann Weltklasse-Hockey und eine grandiose Show bieten – aber nicht diese Emotionen. Er wendet den Blick aus der Loge hinaus in die nicht ganz halb gefüllte Arena und antwortet auf die Frage, ob er nächstes Jahr zurückkehren werde, mit der Undurchschaubarkeit einer Sphinx: «Nun, das entscheidet der Markt…»
Jedes Jahr ein Stück Russland im Hallenstadion, mit Geigenspiel und Weltklassehockey. Ach, wie täte das der (Hockey-) Seele gut. Peter Zahner sollte unbesorgt sein und ein paar Tickets ordern. Seinen ZSC Lions würde deswegen kein Haar aus der Mähne fallen.