Wer nach ein wenig Polemik sucht – und beim aktuellen WM-Aufgebot muss man die Polemik schon suchen – kann fragen: Wo bleibt denn Marco Lehmann? Müsste der 26-jährige SCB-Stürmer im besten Alter (32 Spiele/26 Punkte) denn nicht eher im WM-Aufgebot stehen als der 41-jährige Veteran Andres Ambühl (50 Spiele/14 Punkte)? Haben wir denn hier nicht ein geradezu klassisches Romantik-Aufgebot: Der Nationaltrainer ermöglicht seinem Kumpel, mit dem er einst im HCD-Meisterteam stürmte, einen Karriere-Abgang durch die Vordertür. Andres Ambühl wird seine grandiose Karriere nach der WM beenden.
Gerade diese beiden Spieler zeigen: Es geht bei der WM um Resultate. Nicht um Romantik. Erstens müsste Marco Lehmann eine ganz andere Rolle übernehmen als Andres Ambühl: Der HCD-Kultstürmer ist mit seiner immensen Erfahrung aus 19 WM-Turnieren und mehr WM-Partien als jeder andere Spieler der Welt (141) die perfekte Besetzung für die 13. Stürmerposition. Er kann alle Aufgaben übernehmen – auf dem Eis, auf der Bank und neben dem Eis. Wer Andres Ambühl in der Kabine und im Hotel hat, braucht keinen Mentaltrainer.
Marco Lehmann müsste von seinem Profil her in einem WM-Team ein Offensivstürmer in der ersten oder zweiten Linie sein. Nun können wir einwenden: Aber genau das ist er doch! Er dynamisiert das Spiel wie nur wenige Schweizer Stürmer. Wenn er in die gegnerische Zone eindringt, herrscht höchste Alarmstufe. Er bringt Mitspieler in gute Abschlusspositionen und auch bei hohem Tempo kontrolliert er die Scheibe und wird nie hektisch. Er ist bei weitem auch spektakulärer und auch produktiver als Langnaus gleichaltriger Tempostürmer Dario Rohrbach (50 Spiele/32 Punkte). Auch das erstaunt und eignet sich zu einer kleinen Polemik: Dario Rohrbach steht im WM-Aufgebot und Marco Lehmann nicht.
Und doch gibt es keinen Grund zur Polemik: Der Grund, warum Andres Ambühl und Dario Rohrbach dabei sind und Marco Lehmann nicht: Marco Lehmann ist ein Schillerfalter für den Alltag unserer Lauf- und Tempoliga. Für ein WM-Turnier ist er (noch?) nicht robust genug und für eine andere als eine offensive Rolle fehlt ihm die Erfahrung. Ist also auch Dario Rohrbach robuster als Marco Lehmann? Auf jeden Fall. Er vermag sich gegen Widerstand besser «durchzubeissen». Ein wenig Statistik: In acht Play-In und Playoff-Partien hat er sieben Punkte produziert. Marco Lehmann in sieben Playoffspielen drei Punkte.
Der kurze Vergleich Lehmann/Ambühl/Rohrbach mag zeigen, dass hinter jedem einzelnen Aufgebot von Patrick Fischer eine hockeytechnische, aber sicher keine romantische Überlegung steht.
Vielleicht bekommen wir bei dieser WM die Antwort auf die wichtigste Frage: Kann Patrick Fischer auch ohne Leonardo Genoni bis in den Final oder mindestens in den Halbfinal kommen? 2023 hat der Nationaltrainer im Viertelfinal gegen Deutschland Robert Mayer statt Leonardo Genoni ins Tor gestellt – und Robert Mayer traf bei der Niederlage eine Mitschuld. 2024 setzte Patrick Fischer wieder auf Leonardo Genoni und erreichte nach 2018 zum zweiten Mal den Final.
Ein WM-Halbfinal oder Final ist nur mit einem grossen Torhüter möglich. Besteht Stéphane Charlin bei dieser WM den internationalen Reifetest – im Idealfall mit einem herausgehexten Sieg im Viertelfinal – dann hat Patrick Fischer den nächsten Leonardo Genoni. So gesehen ist Langnaus letzter Mann der wichtigste Spieler im WM-Team. Aber es ist nicht ganz ausgeschlossen, dass er sich nächste Saison in der NHL durchsetzen wird.
Bei allen drei bisherigen WM-Finalteams (2013, 2016, 2024) waren Nino Niederreiter und Roman Josi dabei. Das aktuelle WM-Team ist zum ersten Mal gut genug, um auch ohne Roman Josi und Nino Niederreiter den Final zu erreichen – mit dem Beistand der Hockeygötter natürlich. Ohne den erreicht keine Mannschaft einen WM-Final.
Zum Schluss doch noch ein wenig Polemik auf der Grundlage des WM-Aufgebotes: Im WM-Team stehen zwei Langnauer (Stéphane Charlin und Dario Rohrbach) und kein einziger SCB-Spieler. Das mag auch ein wenig dem Pech geschuldet sein (Romain Loeffel verletzt). Aber es ist mehr als ein Kuriosum. Es ist eine Offenbarung. Wenn Langnaus Torhüter für die WM aufgeboten wird und die letzten SCB-Männer sind kein Thema für die WM, weder für die Schweiz noch für Schweden – was lernen wir daraus?
Richtig: Der SCB hat ein gröberes Torhüterproblem. Und auf den Ober- und Untersportchef wartet noch ein gerüttelt Mass an Arbeit. Ende der Polemik.