Manchmal gibt es sogar in einem Spitzenkampf etwas Wichtigeres als das Resultat. In der 22. Minute verkeilen sich Langnaus Verteidiger Claudio Cadonau und Zugs Stürmer Karl Klingberg ineinander. Beide verlieren das Gleichgewicht und der Schwede rutscht kopfvoran in die Bande. Kein Foul. Ein Unfall.
Karl Klingberg bleibt regungslos liegen. Im Stadion wird es bedrückend still. Der Zuger wird auf eine Bahre gehoben, vom Eis getragen und ins Spital Langnau überführt.
In der zweiten Pause kann Trainer Dan Tangnes seine Spieler beruhigen. Karl Klingberg hat keine Lähmungserscheinungen. Er kann Arme und Beine bewegen. Er ist ansprechbar und in bester medizinischer Obhut. Nun ist die Devise erst recht klar: gewinnen für Karl Klingberg!
Hätte Zug diese Partie verloren, dann hätte auch der boshafteste Chronist auf Kritik verzichtet. Trotz der Entwarnung in der zweiten Pause: Wenn ein Mitspieler ins Spital transportiert werden muss, ist für seine Kollegen nichts mehr, wie es vorher war. Nur eine Mannschaft mit einem enormen Zusammenhalt kann so einen Zwischenfall wegstecken.
Aber ein Berichterstatter hätte noch aus einem weiteren Grund auf Kritik verzichtet. Torhütertitan Tobias Stephan fehlte wegen einer Blessur. Sandro Aeschlimann (23) musste ins Tor. Ein ehemaliger Langnauer Junior, der seinen Arbeitsplatz sonst im Farmteam (EVZ Academy) hat.
Leitwolf Karl Klingberg, überdies der einzige ausländische Spieler der Zuger in guter Form, liegt im Spital und im Tor «nur» die Nummer zwei. Da wäre im Falle einer Niederlage Kritik wahrlich böswillig und unfair gewesen.
Aber Zug gewinnt auch dank Sandro Aeschlimann. Ein reflexschneller, stilsicherer Schlussmann mit einem guten Winkelspiel und einer zwingenden, starken Ausstrahlung. Er hat den Puck immer im Auge. Er wehrt 96,15 Prozent der Schüsse ab. Tobias Stephan oder Leonardo Genoni hätten es nicht besser machen können. Wer sagt eigentlich, die Schweiz habe keine guten jungen Goalies mehr?
Kommt dazu: Es ging beim Gegner in dieser Partie um mehr als «nur» drei Punkte. Die Langnauer wollten Geschichte schreiben. Mit einem Sieg hätten sie von Zug die Tabellenführung übernommen. Zum ersten Mal seit dem 1. Oktober 2000. Damals rückten sie in der 6. Runde nach einem 3:2 in Kloten auf den 1. Platz vor.
Dieser Freitag hätte einer der grössten Tage in der emmentalischen Sportgeschichte werden können. Gegen 20 Uhr stand der Abfahrtssieg von Beat Feuz drüben in Amerika fest und zwei Stunden später hätte Langnau die Nummer 1 in unserem Hockey sein können. Mehr geht nicht.
Der Lokalsender TeleBärn hatte extra seinen besten Mann für eine Reportage ins Emmental entsandt, um den historischen Moment in laufenden Bildern für einen Beitrag festzuhalten. Er packte seine Bildermaschine nach dem Spiel wieder ein. Niederlage. Keine Bilder. Statt Tabellenführung Rang 4. Zug bleibt Leader.
Die Zuger haben auswärts ein Spiel unter schwierigen Bedingungen gegen einen hochmotivierten Gegner verdient gewonnen. In einer Art und Weise, die zu gewagten Träumereien verleitet.
Der letztjährige Trainer Harold Kreis wäre entsetzt gewesen, wenn er seine Mannschaft so mutig, dynamisch, präzis und spektakulär hätte stürmen sehen. Er hätte unverzüglich ein Time-Out verlangt, mehr Vorsicht und defensiven Verstand angemahnt, Jungspunde wie Yannick Zehner (20), Livio Stadler (20) und Thomas Thiry (21) unter die Wolldecke verbannt und Raphael Diaz beauftrag, das Spiel zu verlangsamen.
Keine andere Mannschaft der Liga löst sich zurzeit so flink aus der eigenen Zone, verlagert das Spiel mit so langen Pässen so schnell in die gegnerische Zone und hat den Stil im Vergleich zur letzten Saison so spektakulär geändert wie Zug.
Die Titanen der Liga – Lugano, der SC Bern, die ZSC Lions, Davos, die alle Titel in diesem Jahrhundert unter sich ausgemacht haben – taumeln durch die Saison. Trotzdem erwartet niemand von Zug eine Meisterschaft. Alle sind sich einig: Die «Operation Meistertitel» beginnt erst nächste Saison. Wenn Leonardo Genoni, Jérôme Bachofner und Grégory Hofmann da und alle Ausländerpositionen wieder erstklassig besetzt sind.
Aber nächste Saison kommt auch der hohe Erwartungsdruck. Und der hatte in diesem Jahrhundert auf die mentale Verfassung ungefähr die gleiche Wirkung wie ein Frost Ende Juni im Rebberg am Niggelbühl.
Diese Saison können die Zuger hingegen unbeschwert durch die Qualifikation und die Playoffs fräsen. Warum nicht so unbeschwert und überraschend zum Titel stürmen wie Dänemark bei der Fussball-EM 1992? Die Dänen waren schon in die Ferien verreist, als sie völlig überraschend aus den Strandkörben gescheucht wurden. Sie durften für Jugoslawien ins Turnier nachrücken und konnten locker, unbeschwert und ohne jeden Erfolgsdruck aufspielen.
Item, Zug hat in Langnau so gespielt wie eine Mannschaft, die im nächsten Frühjahr Meister werden kann. Wir sollten das undenkbare denken: Zug wird 2019 Meister.
Oder ist es verrückt, so eine Prognose zu wagen? Was heisst hier verrückt? Nehmen wir an, der Chronist hätte exakt vor einem Jahr Ende November 2017 eine Prognose fürs Hockeyjahr 2018 gewagt. Und er hätte folgendes Szenario entworfen: Okay, die Deutschen kommen in den Final des olympischen Turniers, die Schweizer ins WM-Endspiel. Die ZSC Lions werden mit Hans Kossmann Meister. Kloten steigt ab. Ende November wird es beim Spiel Langnau gegen Zug um die Tabellenführung gehen und zu diesem Zeitpunkt wird Michel Riesen nach Arno Del Curto und Remo Gross schon der dritte Trainer beim HC Davos sein. Ach ja, dann noch das: SCB-Torhüter Leonardo Genoni wird bereits im August einen Fünfjahresvertrag in Zug unterschreiben.
Es hätte geheissen, der Chronist habe wohl wieder gekifft, Haschkekse genascht, Fliegenpilz-Tee getrunken und zu viele Bücher von Zecharia Sitchin statt Jeremias Gotthelf gelesen. Schlimmer: Er mache sich über unser Eishockey lustig. Ein Chronist sollte bei seiner Berufsausübung nüchtern sein und ein gewisses Mass an Seriosität und Glaubwürdigkeit walten lassen.
Und was ist 2018 im helvetischen Eishockey schon alles passiert? Eben.