Der Mann steht sichtlich unter Schock. Nathan MacKinnon, Superstar in der wichtigsten Liga der Welt mit einem Vertrag über acht Jahre im Wert von 100,80 Millionen Dollar, zweitbester NHL-Skorer dieser Saison, spricht in der Mixed-Zone freundlich in kurzen, abgehackten Sätzen. Er scheint das Unfassbare, Undenkbare noch nicht in Worte fassen zu können. «Das gegnerische Team war gut… die haben sich an einen Gameplan gehalten… so kann Hockey sein.» Keine Ausreden. Also ein Gentleman. Auf die Frage, ob der Gegner unterschätzt worden sei, sagt er leise: «Nein, wir haben ja die Partie gut begonnen.»
Das Unfassbare, das Undenkbare: Kanada, das einzige Land, das Eishockey als Nationalsport in seiner Verfassung festgeschrieben hat, mit mehr als 400'000 registrierten Spielern, die Nummer 1 der Weltrangliste, 28 WM-Titel, 53 WM-Medaillen, hat gegen Dänemark 1:2 (0:0, 0:0, 1:2) verloren. Gegen das Nationalteam eines Landes, in dem Eishockey hinter Fussball und Handball ein Schattendasein führt, mit nur etwas mehr als 8000 lizenzierten Spielern, die Nummer 11 der Weltrangliste und noch nie im Halbfinal. Die Schmach von 1949 ist getilgt: Damals hatte Dänemark bei der WM in Stockholm gegen Kanada 0:47 (0:13, 0:16, 0:18) verloren.
Die Torschussstatistik dokumentiert die Dramatik: Die Kanadier dominierten zwar mit 40:33 Abschlüssen. Aber aufgeschlüsselt nach Dritteln erkennen wir den Zusammenbruch des Teams: 18:4 im ersten, 12:7 im zweiten und 10:22 im letzten Abschnitt. Die Dänen haben die Kanadier in der Schlussphase geradezu überrollt. Sie gerieten wie in einen Spielrausch, glichen 2:17 Minuten vor dem Ende aus und erzielten 49 Sekunden vor Schluss den Siegestreffer. Die Kanadier mit nur zwei Spielern, die keine NHL-Profis sind, finden kein Mittel gegen die Dänen, die nur zwei NHL-Profis in ihren Reihen haben.
Oft sind solche Sensationen auch ein wenig dem Zufall geschuldet. Allen ist klar, dass die Partie, könnte sie wiederholt werden, in 99 von 100 Fällen vom Favoriten gewonnen würde. Wie bei der sensationellen 2:3-Niederlage der Schweden gegen Weissrussland im olympischen Viertelfinale von 2002 in Salt Lake City. Oder beim blamablen Scheitern der Schweden im WM-Viertelfinal von 2023 gegen Lettland (1:3). Der Favorit hatte mit 40:11 (13:8, 12:1, 15:4) Torschüssen dominiert.
Aber diesmal ist es anders. Der Sieg des Aussenseiters ist logisch. Weil er in der Schlussphase den Titanen dominiert. Der Sieg wird nicht mit Glück, mit Bangen und Hoffen, mit Zähnen und Klauen über die Zeit gezittert. Der Sieg wird in einem finalen Spielrausch herausgespielt, erzwungen. Das hat es so bei Sensationen im Hockey noch nie gegeben.
Haben die Kanadier ihren Gegner unterschätzt. Ja, das haben sie. Die Dominanz in der Startphase verstärkt noch ihre Arroganz. Und dann ist es nicht mehr möglich, die Einstellung zu ändern. Je länger das Spiel dauert, desto mehr zeigen sich beim himmelhohen Favoriten erst Verärgerung, dann Frustration und schliesslich resignierende Ratlosigkeit.
Der Kollaps in der Schlussphase hat vielleicht einen trivialen Grund: Schlafmangel. Einige Spieler suchten das Hotelbett erst am Spieltag auf. Sie rockten am Vorabend bis nach Mitternacht noch ein wenig durchs nicht gerade aufregende Nachtleben von Herning. Namen gehören nicht in die Öffentlichkeit und sind in diesem Fall nur aufs Dress aufgenähte Buchstaben.
Als ob der Abend nicht schon verrückt genug gewesen wäre, spricht nun einer der Helden auch noch Berndeutsch. Nikolaj Ehlers hatte gegen Deutschland bereits das 1:1 erzielt und damit den Penalty-Erfolg ermöglicht. Jetzt hat er erneut zum 1:1 getroffen.
Er plaudert fröhlich in Berndeutsch mit dem Chronisten. Von 2007 bis 2013 hat er den ersten Schliff bei Biels Junioren bekommen (sein Vater Heinz Ehlers war Trainer in Biel). Er besitzt deshalb eine Schweizer Lizenz und würde in unserer Liga nicht als Ausländer gelten. Früh zeigte sich, dass aus ihm etwas werden würde. In seiner besten Juniorensaison in Biel hat er in 25 Partien 62 Punkte gebucht.
Nun ist er ein Star in der NHL und wenn immer möglich eilt er zur WM. «Ich liebe diese Mannschaft einfach und will das Erlebnis einer WM nicht missen.» Zum Spiel sagt er: «Wir waren überzeugt, dass wir eine Chance haben, wenn uns ein perfektes Spiel gelingt. Am Anfang hatten wir Mühe. Aber nach der ersten Pause setzten wir unser Spiel durch. Wir haben die Kanadier auf die Aussenbahnen abgedrängt und ihnen in der Mitte keinen Raum gelassen. Natürlich hat unser Goalie einige grosse Paraden gezeigt. Aber alles in allem haben wir nicht viele Torchancen zugelassen.»
Seine Bieler Vergangenheit habe er nicht vergessen. Ja, er sagt: «Biel wird immer in meinem Herzen sein.» Im Halbfinal trifft er auf Nino Niederreiter, seinen Teamkollegen in Winnipeg. «Ich hatte mit Nino noch keinen Kontakt. Aber ich bin sicher, dass er mir inzwischen schon ein paar Nachrichten geschickt hat …»
Mit Nicklas Jensen ist noch ein «Schweizer» dabei. Er stürmt schon seit drei Jahren für die Lakers. Anders als Nikolaj Ehlers kann er nach wie vor fast nicht fassen, was er da soeben erlebt hat. Tatsächlich wird er von einem Spassvogel gefragt, ob das jetzt fast so sei wie ein Meistertitel mit den Lakers. Da wird er fast ein wenig verlegen, mag dies weder verneinen noch bestätigen und ist einfach überglücklich.
Und nun also der Halbfinal gegen die Schweiz. Die «Jahrhundert-Chance» für eine WM-Finalqualifikation, die vielleicht in den nächsten hundert Jahren nicht wiederkehren wird. Natürlich wird Nikolaj Ehlers gefragt, was er zu den Schweizern sage. Da zeigt sich, dass er den feinen Sinn für Humor und die Schlagfertigkeit seines Vaters hat. Er grinst, lächelt und sagt: «Super! Die Schweizer sind super!»
Ja, so ist es. Die Schweizer sind super. Und nun steht definitiv fest: Patrick Fischer ist ein grosser Trainer. Er hat nämlich auch Glück. Der grosse Napoleon, der etwas von Führung verstand, wollte nur eines wissen, wenn ihm ein Offizier zur Beförderung vorgeschlagen wurde: «Hat der Mann auch Glück?»
Patrick Fischer wäre unter Napoleon nach dieser WM nicht nur General, er wäre Marschall geworden. Denn die Schwingen der Glücksgöttin haben ihn gestreift. Mit sechs Spielen hintereinander gegen die vermeintlich «Kleinen» – Deutschland, Norwegen, Ungarn, Kasachstan, Österreich und nun Dänemark am Samstag – kann er den Final erreichen.
Wie verrückt diese Halbfinal-Paarung ist, mag eine kleine Episode illustrieren. Nach dem 6:0 gegen Österreich ist noch offen, wer der Gegner der Schweizer im Halbfinal sein wird. Also wird Patrick Fischer die unvermeidliche Frage gestellt: «Wer ist der Wunschgegner im Halbfinal?» Er überlegt kurz und sagt, das könne er nicht sagen, er habe sich damit noch nicht befasst. Aus dem Hintergrund ruft ein Chronist aus dem Tessin: «Doch sicher Dänemark, oder?» Patrick Fischer lächelt kurz ungläubig und sagt nichts. Was sollte er denn auf eine solche scherzhafte Bemerkung sagen? Ein Sieg von Dänemark gegen Kanada – undenkbar.
Die Schweizer haben nach 1992, 1998, 2013, 2018 und 2024 zum 6. Mal den WM-Halbfinal erreicht und finden sich gegen Dänemark zum ersten Mal überhaupt in der Favoritenrolle wieder. Zumindest theoretisch. In der Gruppenphase haben sie Dänemark trotz eines zwischenzeitlichen 1:2 Rückstandes und eines Gegentreffers in Überzahl sicher 5:2 gewonnen.
Aber das zählt nicht mehr. Gelingt den robusten Dänen noch einmal ein ähnlich perfektes Spiel wie gegen Kanada, dann geraten wir in Not. In höchste Not. In allerallerhöchste Not. Die Schweizer müssen am Samstag das sein, was Nikolaj Ehlers über sie sagt: Sie müssen super sein.
Anders als eine Pleite gegen Österreich im Viertelfinal wäre eine Niederlage im Halbfinal gegen Dänemark keine Schmach. Aber eine bittere Enttäuschung. Noch in zehn Jahren würden wir hin und wieder mit einem Anflug von Melancholie sagen: «Ach, wie schade, dass wir damals 2025 in Stockholm die Chance auf den Final gegen die Dänen nicht genützt haben! Wir wären ganz sicher Weltmeister geworden…»