Die Feststellung bringt Silvan Widmer ein kleines bisschen in Verlegenheit. Also sagt er nach einigen Sekunden Bedenkzeit: «Das ist nur Zufall!»
Zufall? Vielleicht. Interessant ist der Fakt trotzdem: Die Schweizer Fussball-Nati hat gerade immer dann ein Problem, wenn ihr Rechtsverteidiger Silvan Widmer fehlt. 1:6 im WM-Achtelfinal gegen Portugal? Widmer ist krank. 2:2 gegen Rumänien und den Kosovo? Widmer ist verletzt.
Auch jetzt, beim Länderspiel gegen Weissrussland am Sonntag im ausverkauften Kybunpark von St.Gallen, muss Widmer noch passen. Zwar ist der Mainz-Verteidiger wieder genesen, aber ein Nati-Einsatz käme noch zu früh. Die Schweiz muss ohne ihn auskommen, wenn es darum geht, der definitiven EM-Qualifikation einen Schritt näherzukommen.
Letztmals auf der grossen Fussball-Bühne stand Widmer am 30. April in der Bundesliga. Gegen den VfL Wolfsburg zog er sich eine Bänderverletzung zu. Danach unterzog er sich einer Operation. Diese hatte allerdings nichts mit der erlittenen Verletzung zu tun, sondern betraf die linke Ferse und Achillessehne und war von langer Hand geplant, ursprünglich aber erst für nach der Saison.
«Mir war von Anfang an klar, dass es mindestens vier Monate dauern würde, bis ich wieder im gewohnten Rahmen trainieren kann», sagt Widmer im Gespräch mit CH Media. Komplikationen hat es während der Regeneration keine gegeben. Die knapp zwei Wochen Rückstand auf die Marschtabelle gelten medizinisch als Normalfall. «So lange ohne Fussball, das war eine neue Erfahrung für mich. Man kommt immer wieder an den Punkt, wo man denkt: ‹Es geht so langsam vorwärts!› Das braucht sehr viel Geduld. Und Geduld – davon könnten sehr viele Menschen mehr gebrauchen.» Auch er selbst? «Ich habe es hingekriegt, nicht auszuticken», sagt Widmer mit einem Lächeln.
Nicht gerade geholfen hat der Fakt, dass Mainz 05 einen missratenen Saisonstart hinter sich hat. Nach sieben Spielen ist sein Team noch sieglos und steht mit zwei Punkten auf einem Abstiegsplatz. «Es hat doppelt weh getan. Es kribbelte andauernd, am liebsten hätte ich auf dem Platz mitgeholfen, aber dann wären die Ärzte sauer gewesen auf mich.» So musste sich Widmer bis anhin auf die Rolle als Krisenmoderator beschränken. Dieser Verantwortung entzog sich der Captain selbstredend nicht.
Die aktuelle Negativ-Phase ist die erste, seit Widmer im Sommer 2021 zu Mainz wechselte. Er nimmt das Umfeld trotz des mässigen Saisonstarts als einigermassen ruhig wahr. «Wir können weiterhin konzentriert arbeiten.» Das wäre in Basel, bei Widmers letztem Arbeitgeber vor dem Wechsel in die Bundesliga, undenkbar. Nach der Länderspielpause folgen «wegweisende» Wochen, wie Widmer sagt. Zunächst gastieren die Bayern in Mainz, «in den letzten drei Jahren haben wir sie zu Hause stets besiegt – das wollen wir wieder tun», entscheidend für die Stimmungslage werden aber vor allem die Auswärtsspiele in Bochum und Darmstadt. Widmer ersehnt sein Comeback. Seit Anfang Oktober absolviert er wieder sämtliche Mannschaftstrainings. Ein erstes Mal sass er zuletzt gegen Gladbach wieder auf der Bank. Vielleicht reicht die Zeit, um im November auch wieder bei der Nati dabei zu sein. Allein schon seine Präsenz würde zur Beruhigung einiger Nerven beitragen.
Die Entwicklung von Widmer ist eine der erstaunlicheren Geschichten rund um die Nationalmannschaft in letzter Zeit. Lange Jahre musste der mittlerweile 30-jährige Aargauer hinten anstehen. Stephan Lichtsteiner war gesetzt. Michael Lang hiess sein erster Vertreter. Und auch Kevin Mbabu stand in der Hierarchie weiter oben. Zweimal, vor der EM 2016 und der WM 2018, musste Widmer die Nati vor einem grossen Turnier in letzter Sekunde verlassen. Doch der mittlerweile 30-jährige Aargauer gab nie auf. Im Gegenteil, die Enttäuschungen spornten ihn an. Das Erleben des EM-Viertelfinals 2021 und des Einzugs in den WM-Achtelfinal waren die ersten Entschädigungen dafür. Der Hunger nach mehr ist geweckt.