Es ist das Lachen des Siegers. Mario Gavranovic sitzt am Tag nach dem historischen Sieg über Frankreich im Schweizer Team-Hotel. Am Abend flog der Schweizer Tross nach St.Petersburg, wo am Freitag der Viertelfinal gegen Spanien stattfindet. Zuvor sagt Gavranovic: «Dieses Spiel konnte kein anderes Ende nehmen, es hätte nicht gepasst.»
Vielleicht hat Gavranovic recht. Nur: Die Erinnerungen an Penaltyschiessen mit der Schweiz sagten etwas anderes voraus, ein erneutes Drama für die Nati. An der WM 2006 versagten sämtlichen Schützen die Nerven, out gegen die Ukraine. An der EM 2016 trafen zwar vier von fünf Schweizern, aber Granit Xhaka verschoss und Yann Sommer konnte keinen Versuch abwehren, out gegen Polen. Und auch in den Nations-League-Finals 2019 im Kampf um Platz 3 gegen England zog die Nati den Kürzeren.
Wie ist es der Schweiz gelungen, diesen Fluch zu überwinden? Stürmer Gavranovic berichtet: «Schon als wir uns nach der Verlängerung zu einem Kreis in der Mitte versammelten, haben wir uns gesagt: Wir verdienen es, hier Geschichte zu schreiben. Wir packen es.»
Gavranovic war es, der den wichtigen ersten Penalty ausführte. War ihm in diesem Moment bewusst, wie problembeladen die Schweizer Elfmeter-Historie ist? «Nein, ich habe nicht an die Vergangenheit gedacht. Ich habe sofort gesagt: Ich will als erster schiessen. Danach war ich nur noch auf diesen Schuss konzentriert.» Kommt dazu, dass Gavranovic voller Selbstvertrauen war nach seinem Tor zum 3:3.
Captain Granit Xhaka indes verzichtete darauf zu schiessen. Ihm sind unmittelbar vor dem Penaltyschiessen die Bilder seines Fehlschusses von 2016 gegen Polen wieder durch den Kopf gegangen. Darum liess er den Kollegen den Vortritt, die sich besser fühlten.
Daniel Memmert ist Sportpsychologe an der Deutschen Sporthochschule Köln. Er hat über Jahre zu Penaltyschiessen geforscht, dazu verschiedene Studien und Bücher verfasst («Psychologie des Elfmeters»). Das Verhalten von Xhaka nennt er: «Überragend».
Memmert und zwei Kollegen untersuchten in einer Langzeitstudie die Trefferquoten bei Elfmeterschiessen. Sie kamen auf einen Wert von zirka 75 Prozent verwandelter Penaltys. Interessant dabei ist aber, dass die berühmtesten Schützen der Teams nur auf einen Wert von 65 Prozent kamen.
«Die Berühmtheit übt noch einen Tick mehr Druck auf den Penalty-Schützen aus. Alle erwarten von ihm, dass er trifft. Andere Spieler, die auch sehr gut sind, aber (noch) nicht als Weltstars gelten, sind besser geeignet für die Extremdrucksituationen am Anfang und Ende des Elfmeterschiessens.» Diese kommen in der Studie auf einen Wert von 88 Prozent verwandelter Penaltys.
Dass mit Kylian Mbappé der Superstar der Franzosen am Schluss antrat, sei ein Fehler gewesen. Vielleicht kein Zufall, dass er schoss, wie man es nicht tun sollte: weder flach noch hoch, sondern so, dass der Torhüter den Ball erfliegen kann, so wie das Yann Sommer getan hat.
Und wie bereitet sich ein Torhüter auf einen Elfmeter vor? Gaëlle Thalmann ist Torhüterin des Schweizer Frauen-Nationalteams. Auch sie hat mit der Nati kürzlich ein bedeutendes Elfmeterschiessen gewonnen – im EM-Playoff gegen Tschechien im April. Sie sagt: «Man versucht jedes Zeichen des Schützen zu lesen. Ihn vielleicht zu locken. Und dann eben die richtige Ecke und den Ball zu erwischen.»