Nach dem 0:3-Debakel gegen Italien haben wir auf diese Frage mit Nein geantwortet. Sorry, absolute Fehleinschätzung. Natürlich hat die Tattoo- und Coiffeur-Geschichte ebenso irritiert wie sein dürftiger Auftritt gegen Wales und die schlechte Leistung gegen Italien. Doch im Nachgang hat Xhaka bewiesen, welch ideale Besetzung er als Captain dieses Nationalteams ist. Warum? Er hat nach dem jämmerlichen Auftritt in Rom nichts beschönigt, sich selbst in die Verantwortung genommen und den kritischen, aber konstruktiven Dialog im Team gesucht. Kurz: Er hat Führungsqualitäten bewiesen.
Und er ist in der Folge wie ein Leader aufgetreten. Er hat angetrieben, ist pflichtbewusst aufgetreten, hat dirigiert und stets als Vorbild gewirkt. Xhaka war ein grossartiger Captain. Einzig auf die zweite Verwarnung im Spiel gegen Frankreich wegen Reklamierens hätten wir sehr gut verzichten können. Mit Xhaka in der Schaltzentrale hätte die Nati gegen Spanien noch besser ausgesehen. Deshalb die Antwort auf die Frage: Ja, Xhaka ist der richtige Captain.
Kaum. Natürlich herrscht ein anständiger Konkurrenzkampf, drängen junge Spieler nach, weshalb Einsatzminuten im Klub nicht unerheblich sind. Aber das Gros dieser Mannschaft wird sich nicht gross verändern. Allein schon der Altersstruktur wegen. Da ist keiner, der auf die 35 zugeht. Yann Sommer, der älteste Spieler, wird im Dezember 32. Er hat noch viele Jahre auf höchstem Niveau vor sich. Was keine guten Perspektiven für seine Vertreter Yvon Mvogo, Jonas Omlin und Gregor Kobel sind. Und auch sonst wird es schwierig für die jungen Spieler in den nächsten eineinhalb Jahren sich in der Nationalmannschaft zu etablieren.
Weil das Team eine ideale Altersstruktur hat und es bis zur WM nur noch 17 Monate dauert, dürfen wir zuversichtlich Richtung Katar blicken. Schlüsselspieler wie Xhaka, Sommer, Akanji, Shaqiri, Seferovic, Schär und Freuler werden im November 2022 auf dem Zenit sein. Elvedi, Zuber, Vargas, Mbabu, Zakaria und Embolo haben nicht nur bereits ein sehr hohes Level erreicht, nein, sie werden sich noch weiter entwickeln. Kurz: Diese Mannschaft wird nicht schlechter, im Gegenteil.
Und eventuell wird ein Spieler, den wir an dieser EM nicht in Aktion gesehen haben, in den nächsten eineinhalb Jahren mit einer Leistungsexplosion für Furore sorgen. Kandidaten dafür gibt es einige. Beispielsweise FCZ-Verteidiger Becir Omeragic, Nizza-Stürmer Dan Ndoye, Southamptons Mittelfeldjuwel Alexandre Jankewitz, Fabian Rieder von YB oder Andi Zeqiri, Stürmer bei Brighton & Hove Albion. Aber den nächsten Umbruch im Nationalteam werden wir erst nach der WM 2022 erleben.
Der Nationaltrainer ist der grösste Gewinner dieser EM. Er hat dem Team den Glauben eingeimpft, dass es fähig ist zu einem solchen Coup. Und vor allem hat er es geschafft, die Mannschaft in den kritischen Momenten nach dem 0:3 gegen Italien aufzurichten, aus ihr die grossen Leistungen gegen Frankreich und Spanien herauszukitzeln. Der Lohn: Viertelfinal. Das hat vor ihm kein Nati-Trainer mehr geschafft in der Fussball-Moderne.
Petkovics Vertrag läuft weiter bis zum Ende der WM-Qualifikation. Qualifiziert sich die Schweiz für die WM in Katar (November – Dezember 2022), wird er sie auch dort betreuen – wenn er denn will. Immer wieder tauchen Gerüchte auf, wonach ihn verschiedene Klubs gerne abwerben würden. Zuletzt Zenit St. Petersburg. So richtig dazu geäussert hat sich Petkovic noch nie, aber das muss nichts heissen.
Es würde seinem Wesen nicht entsprechen, dieses Schweizer Team jetzt zu verlassen. Weil die Schweiz mitten in der WM-Qualiflikation steht, anfangs September steht bereits das nächste, grosse Spiel an – abermals gegen Italien. Und Petkovic ist zu Recht überzeugt davon, dass dieses Projekt noch nicht zu Ende ist. Sein Umbruch, den er seit Ende der WM 2018 geschickt eingeleitet hat, trägt erste Früchte. Die süssesten könnten aber noch folgen. Und die möchte er selbst ernten. Zumal bei dieser EM die Beziehung zwischen ihm und seinen Spielern noch einmal enger geworden ist.
Und dann endet die Schweizer Reise doch wieder nach einem Penaltyschiessen. Wie schon an der EM 2016 muss die Nati auch jetzt, fünf Jahre später, die Tränen der tragischen Helden trocknen. Nachdem gegen Polen Granit Xhaka verschossen hatte, trafen nun mit Fabian Schär, Manuel Akanji und Ruben Vargas gleich drei Schweizer nicht. Ist der Fluch also doch noch nicht besiegt?
Falsch. Wie immer gilt: Jeder der Spieler, die auf dem Platz stehen, hat die Qualität, um einen Elfmeter zu versenken. Doch es gibt Umstände, die man unmöglich trainieren kann. Diese finale Entscheidung überhaupt zu erreichen, war ein unvergleichlicher Kraftakt der Schweizer. Dann noch einmal die mentale und physische Energie aufzubringen, ist eine riesige Herausforderung. Daran ist die Nati letztendlich gescheitert. Es gilt darum nach diesem Abend von St. Petersburg: Penaltys verschossen – na und? Es ist sehr gut möglich, dass die Schweizer ihr nächstes Penaltyschiessen wieder gewinnen. Bis dahin werden in den Köpfen aller auch wieder die Glücksgefühle aus dem Frankreich-Spiel dominieren.
Im Idealfall darf die Schweizer Nationalmannschaft wegkommen vom Modus, sich stets rechtfertigen zu müssen. Für ihre Secondo-Mentalität, für das Nichtsingen eines Psalms, für ihre Attitüde, erfolgreich sein zu wollen. Es ist das grösstmögliche Lob, dass man ihr an dieser EM plötzlich alles zutraute, und es wäre das grösstmögliche Lob, wenn man ihr auch künftig vertraute. Damit Mannschaft und Trainer sich wieder auf das Wesentliche konzentrieren können: auf den Sport.
Für den Schweizer Fussball könnte das Abschneiden an der EM eine Signalwirkung für die Zukunft haben. Mit dem Viertelfinaleinzug wurde ein Benchmark gesetzt, der sich kollektiv ins Gedächtnis eingebrannt hat. Für die Jugend von heute wie für die Profis muss es nun das Ziel sein, den Traum als bald zu wiederholen, vielleicht sogar zu toppen, wenngleich das schwierig ist. Das Turnier 2021 soll jedenfalls nicht bloss eine süsse Erinnerung bleiben.
Viel und nichts. Viel, weil die Schweizer nicht bei Spitzenklubs engagiert sind. Es gibt keinen Serienmeister wie Stephan Liechtsteiner bei Juventus einer war. Es gibt keinen Stammspieler bei Bayern wie es im besten Fall Xherdan Shaqiri sein könnte. Es gibt viele Mitläufer in Klubs, und es gibt immer noch zu viele, die in der Schweiz ihr Geld verdienen. Es wird unter diesen Prämissen also schwierig, sich eine internationale Robustheit zu erarbeiten. Doch genau diese Härte ist in einem Grossanlass notwendig. Zudem: Das Wettkampfglück, dass der Schweiz gegen Frankreich hold war und gegen Spanien nicht, ist ein Faktor, den man nur schwer beeinflussen kann.
Nichts, weil die Mannschaft als Einheit funktioniert. Italien beispielsweise hat nicht das beste Team, funktioniert im Teamgeist aber perfekt. Die Schweiz ist trotz des Sieges gewiss nicht besser als Frankreich, aber sie bewies, dass mit einem funktionierenden Gefüge vieles möglich ist. Zudem entscheiden in K.o.-Runden jeweils auch die Tagesform, die Emotionen, die Mentalität und die Spannungskurve. Trainer Vladimir Petkovic schaffte es an diesem Turnier mithilfe seines Captains Granit Xhaka, alles nahezu perfekt in einen Steigerungslauf hinzumoderieren.
Im Moment gibt es drei: Im Tor und in der Verteidigung braucht der Schweiz auch in Zukunft nicht bange zu werden. Im Mittelfeld grundsätzlich auch nicht. Im Sturm haben alle reüssiert, doch hinter Gavranovic, Seferovic und Embolo drückt noch keiner durch wie nach. Es fehlt die Sturmhoffnung, die uns ruhige Momente in Zukunft bescheren könnte. Einen zweiten Shaqiri würde es zudem vertragen, damit die offensive Hoffnung im Grundsatz nicht nur auf dem Kraftwürfel lastet.
Und: Granit Xhaka ist einfach nicht zu ersetzen, ein zweiter Spieler seines Formats würde der Schweiz gut zu Gesicht stehen. Ohne Xhaka ist die Schweiz eine andere Mannschaft. Fussballerisch, von der Mentalität, Power und Einstellung her. Wenn Shaqiri beispielsweise ausfällt, springen andere in die Bresche. Wenn Xhaka ausfällt – ist da gar niemand. Vielleicht sollte sich der Verband genau diese Frage stellen: Wie wollen wir das in Zukunft machen, damit wir den nächsten Xhaka in unseren Reihen haben?