Konflikt mit Besitzern wegen Ronaldo – das steckt hinter der Entlassung von Thomas Tuchel
Da stand er auf dem Rasen, mit geballten Fäusten, weit aufgerissenem Mund und liess seiner Freude freien Lauf. Wenig später wird Thomas Tuchel mit seinem Team die Champions-League-Trophäe entgegennehmen. Er hat soeben den grössten Titel im Klubfussball gewonnen – nur wenige Monate, nachdem er Chelsea im Januar 2021 übernommen hatte. Die Fans feierten ihren «Super Tommy», der Klub verlängerte seinen Vertrag um zwei Jahre bis 2024, und die FIFA kürte ihn zum Welttrainer des Jahres.
Doch Tuchel musste bald erfahren, wie schnelllebig der Fussball sein kann. Keine anderthalb Jahre später steht der Deutsche ohne Job da. Entlassen vom Klub, den er zu dieser glorreichen Nacht in Porto mit dem 1:0-Finalsieg gegen Manchester City geführt hat. Glanzlos muss er seinen Posten räumen. In einem zehnminütigen Gespräch sei Tuchel am Mittwoch darüber informiert worden, wie die Sun berichtet.
Eigentlich war Tuchel fürs Training am Chelsea-Gelände erschienen, doch fand er dort keinen seiner Spieler. Trotz des schwierigen Saisonstarts kommt die Entlassung überraschend. Denn Tuchel geniesst ein hohes Ansehen bei Spielern wie Experten – und die Fans der «Blues» liebten ihn ohnehin.
Never forget Thomas Tuchel's reaction when the Chelsea fans unveiled this banner for him 🥺💙 pic.twitter.com/mnr15tLhxP
— ESPN FC (@ESPNFC) September 7, 2022
Dementsprechend fallen die Reaktionen aus. In den sozialen Medien wird Tuchel gefeiert, Anhängerinnen und Anhänger schwelgen in Erinnerungen an die Tuchel-Ära und zeigen sich enttäuscht über die Entscheidung der neuen Vereinsführung unter Leitung von Todd Boehly. Am Mittwochabend trendeten die Hashtags «SuperTommyTuchel» und «BoehlyOut» auf Twitter. Der Konsens ist eindeutig: Der Deutsche hat die Entlassung nicht verdient.
Dem pflichten auch die Experten bei. Rio Ferdinand sagte auf seinem eigenen YouTube-Kanal: «Egal, wer seine Nachfolge antritt, es wird eine Verschlechterung zu Tuchel sein.» Der frühere englische Nationalspieler erzählt, dass sich Spieler ihm gegenüber nur positiv über den 49-Jährigen geäussert hätten. Tuchel sei ehrlich, direkt und wisse genau, wie sein Team spielen solle. Ferdinand kann die Entscheidung in keiner Weise verstehen.
Liverpool-Legende Jamie Carragher sieht die Entscheidung ähnlich kritisch. Beim Telegraph schreibt der TV-Experte: «Die Fans von Liverpool, Manchester United, Arsenal und Tottenham werden über die Entscheidung erfreut sein, weil ihre Chancen auf eine Top-4-Platzierung in der Premier League dadurch deutlich gestiegen sind.»
Cristiano Ronaldo als Grund für Konflikt
Dass Fans und Experten überrascht reagieren, hat vor allem einen Grund: Tuchel war sehr erfolgreich. Er gewann nicht nur die Champions League, sondern erreichte drei nationale Cupfinals. Zwar unterlagen die Londoner dort einmal Leicester und zweimal Liverpool, doch müssen wohl selbst die grössten Chelsea-Optimisten zugeben, dass das Kader von Liverpool letzte Saison doch noch deutlich stärker war. In anderthalb Jahren schaffte Tuchel mehr Finalteilnahmen als jeder andere Chelsea-Coach in der Geschichte. Und in der Liga wurde er hinter den in der letzten Saison übermächtig scheinenden Manchester City und Liverpool Dritter.
4 - Despite being in charge of Chelsea for just 589 days, no manager has ever reached more major domestic/European finals with the Blues than Thomas Tuchel (4). Memorable. pic.twitter.com/3OwFdv1cOi
— OptaJoe (@OptaJoe) September 7, 2022
Aber der Saisonstart verlief nicht den Erwartungen entsprechend. Vor allem das 0:3 in Leeds und das 1:2 in Southampton waren enttäuschend für die ambitionierten neuen Besitzer aus den USA. Nach sechs Spielen steht Chelsea in der Liga mit zehn Punkten auf dem sechsten Platz. Die Pleite in der Champions League bei Dinamo Zagreb war dann die berühmte Niederlage zu viel. Nur scheinen die Gründe tiefer zu liegen.
Die Entscheidung, Tuchel zu entlassen, habe bei Boehly angeblich bereits zuvor festgestanden. Der US-Amerikaner ist der Nachfolger von Roman Abramowitsch als Besitzer des Premier-League-Klubs. Ausschlaggebend seien Differenzen zwischen der Klubführung und dem Trainer gewesen, wie Matteo Moretto von Relevo berichtet. Angefangen hätten diese, als Chelsea mit Cristiano Ronaldo verhandelte.
Boehly war während dieser Transferphase interimsweise Sportdirektor, nachdem die langjährige Verantwortliche Marina Granovskaia entlassen worden war. Anders als sein russischer Vorgänger wollte er mehr Einfluss auf die Transferpolitik nehmen. So erzielte er mit Ronaldo und dessen Berater Jorge Mendes eine Einigung. Aber Tuchel wollte den Portugiesen nicht, wie The Athletic berichtet, er bevorzugte Pierre-Emerick Aubameyang vom FC Barcelona.
So musste der US-Amerikaner den Deal mit Ronaldo platzen lassen. Doch es war nicht die einzige Auseinandersetzung zwischen Tuchel und Boehly. Der Trainer wollte unter anderem Flügelspieler Raphinha von Leeds und Juventus-Verteidiger Matthijs de Ligt verpflichten. Jedoch schafften es Boehly und seine Geschäftspartner in beiden Fällen nicht, die Spieler nach London zu lotsen. Sie hatten sich zwar bereits mit den Vereinen auf eine Ablösesumme geeinigt. Nur waren sie noch gar nicht sicher, ob Raphinha und de Ligt überhaupt zu Chelsea kommen wollen. Dies hatte bei den amerikanischen Besitzern keine Priorität.
Das Timing der Entscheidung verwundert
Weil Ende Juli noch immer keiner seiner Wunschspieler unter Vertrag genommen wurde, liess Tuchel seiner Wut nach dem 0:4 im Vorbereitungsspiel gegen Arsenal freien Lauf: «So sind wir nicht konkurrenzfähig.» Aufgrund der Sanktionen gegen den russischen Besitzer durfte Chelsea lange nicht verhandeln. So verlor man Antonio Rüdiger und Andreas Christensen ablösefrei an Real Madrid bzw. Barcelona. «Wir müssen dringend gute Spieler verpflichten, eine Menge davon.»
Die bekam Tuchel dann doch noch. Für Raheem Sterling, Marc Cucurella, Kalidou Koulibaly, Wesley Fofana und weitere Spieler bezahlte Chelsea über 280 Millionen Euro. Nur hatte er kaum Zeit, die Neuzugänge in sein Spielsystem zu integrieren. So überraschte das Timing der Entscheidung ebenso wie die Entlassung selbst. Thierry Henry, ehemaliger Stürmer und jetziger TV-Experte, äussert seine Verwunderung: «Wieso gibst du so viel Geld für Spieler aus, die dein Trainer wollte, und entlässt ihn dann?»
Gary Lineker zog aus diesem Grund einen Vergleich zum Vorgehen von Abramowitsch. «Es ging nicht lange, bis die neuen Besitzer ins Muster der alten gefallen sind und den Trainer in der ersten richtigen Formkrise entlassen.» Dabei hatten Boehly & Co. Neuerungen versprochen. Dass dies nicht passieren würde, ahnte Tuchel angeblich bereits.
Laut der «Sun» habe er befürchtet, dass seine Entlassung bevorstehen könnte und habe seinen Unmut gegenüber Vertrauten geäussert. Die Besitzer hätten alles kontrollieren wollen. Einer von Tuchels Vertrauten sagte: «Die neuen Besitzer wollen alles sein. Sie wollen die Spieler kaufen und wenn möglich auch trainieren.»
Was passiert jetzt?
Um die Nachfolge zu regeln, brauchten Boehly & Co. nicht viel Zeit. Am Donnerstagnachmittag gab Chelsea bekannt, dass Graham Potter von Brighton verpflichtet wurde. Der 47-Jährige kostet rund 18 Millionen Euro an Ablöse. Potter war bereits bei Manchester United als möglicher Nachfolger für Ralf Rangnick gehandelt worden, bevor diese sich für Erik ten Hag entschieden haben.
Der Engländer schaffte es in den letzten drei Jahren, mit bescheidenen Mitteln eine Menge aus Brightons Kader herauszuholen. Aktuell steht der Klub aus Südengland auf dem 4. Platz. Nun wird Potter bei Chelsea die Chance bekommen, sich auch auf höchstem Niveau zu beweisen. Seine erste Aufgabe wird sein, die vielen Neuzugänge ins Team zu integrieren. Spieler, die noch für seinen Vorgänger verpflichtet wurden.