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Gewalt im Schweizer Fussball – ein betroffener Schiedsrichter erzählt

Amateur-Schiedsrichter erleben immer wieder Gewalt.
Amateur-Schiedsrichter erleben immer wieder Gewalt.Bild: Shutterstock

«Wehe, du gehst zur Polizei»: Ein Schiedsrichter erzählt, wie er Gewalt erlebt

Erst die physische Attacke nach einem Fussballspiel. Danach Drohungen und Einschüchterungen. Psychoterror am Telefon. Jetzt packt ein Schiedsrichter aus. Und er erzählt, warum in der Szene über einen Streik diskutiert wird.
17.06.2025, 06:5717.06.2025, 06:57
françois schmid-bechtel und martin probst / ch media
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Wie ein Gummiball prallen wir immer wieder ab an dieser Mauer des Schweigens. Der Schiedsrichter aus der Ostschweiz, der vor wenigen Wochen nach einer Attacke eines Spielers einen mehrfachen Kieferbruch erlitten hat, fühlt sich psychisch nicht bereit, mit uns zu sprechen. Andere ignorieren unsere Nachrichten oder verweisen darauf, dass sie nicht reden wollen oder nicht reden dürfen. Und als die Verbandsbosse Wind von unseren Bemühungen erhalten, werden mögliche Bruchstellen in der Mauer eilig ausgebessert. Uns wird derweil mitgeteilt, es zu unterlassen, mit Schiedsrichtern in Kontakt zu treten.

Der Schiedsrichter mit dem Kieferbruch. Der Schiedsrichter aus dem Aargau, der kürzlich erst von einem Vater eines Juniors geohrfeigt wurde. Beide Vorfälle aus dem Mai. Es sind Einzelfälle, gewiss. Aber selbst der Präsident eines Regionalverbandes schreibt an seine Schiedsrichter: «Wir bemerken eine leichte Zunahme der Gewaltbereitschaft, insbesondere aber ein Gefühl der zunehmenden verbalen Gewalt seitens der Spieler, der Mannschaftsverantwortlichen und der Zuschauer. Das bereitet uns Sorgen.»

Ein Maulkorb zum Wohl des Fussballs?

Die Geschichte hat eine irritierende Note. Da fordern die Verbände von ihren Schiedsrichtern auf dem Fussballplatz «überzeugtes Auftreten und eine unmissverständliche Kommunikation», wie ein Verbandspräsident schreibt. Aber mit der Öffentlichkeit ihre Erlebnisse, Erfahrungen und Ängste zu teilen oder auf Missstände hinzuweisen – das traut man ihnen nicht zu. Bloss nicht den Fussball beschmutzen. So wirkt diese Haltung. Aber dazu später.

Schiri ist über 20, als er mit Kicken aufhört und sich vom Präsidenten seines Klubs dazu überreden lässt, Schiedsrichter zu werden. Es ist ja immer so eine Sache mit den Schiedsrichtern: Zu viele hat man selten. Wer als Klub zu wenige meldet, muss finanzielle Konsequenzen tragen.

Schiri fühlt sich seinem Klub irgendwie verpflichtet. Aber sehr bald sieht er das Arbitrieren nicht als lästige Pflichtaufgabe, sondern als eine Art Bestimmung. Für die ganz grosse Karriere ist er zwar schon zu alt. Aber die Spitze im Amateurfussball soll es schon werden.

Nachdem Schiri einem Spieler die rote Karte zeigt, rastet dieser nach Spielschluss aus und attackiert den Unparteiischen.
Nachdem Schiri einem Spieler die rote Karte zeigt, rastet dieser nach Spielschluss aus und attackiert den Unparteiischen.Bild: Shutterstock

Er ist ambitioniert, leidenschaftlich, gewissenhaft. Kurz: auf einem guten Weg. Doch dann passiert das, was ihn zweifeln lässt, Ängste auslöst und er danach viele Wochen kein Spiel mehr leiten kann. Es ist nicht nur die physische Attacke eines Spielers etliche Minuten nach Schlusspfiff, sondern auch das, was folgt: Drohungen, Einschüchterungen, eine Art Psychoterror.

Schiri: Ich kenne dich, ich finde dich

Dreimal ruft ihn der Spieler an. Und die Botschaft ist immer die gleiche: Wehe, du gehst zur Polizei. Ich kenne dich, ich finde dich. Aber Schiri ist nicht allein. Er hat eine Familie. «Ich war unsicher nach den Drohungen, weil ich nicht wusste, wie weit der Spieler bereit ist zu gehen», sagt Schiri. Er verzichtet auf eine Anzeige. «Nicht, weil mir der Mut gefehlt hat. Aber ich befürchtete, dass die Situation eskaliert, wenn ich ihn anzeige. Ausserdem wollte ich nicht meine Familie einer potenziellen Gefahr aussetzen. Ohne Familie hätte ich ihn angezeigt.»

Aber wie geht man mit der Familie um? Verschweigt man die Geschichte, um sie nicht zu verunsichern? Oder erzählt man, damit sie auf der Hut ist? «Meine Frau war von Beginn an im Bild. Ich habe ihr noch am Abend nach der Attacke von den Ereignissen erzählt. Mit ihr habe ich auch das mit der Anzeige besprochen.»

Schiri zieht sich zurück. Er kommt ins Grübeln. Er zweifelt, er hadert. Wofür mache ich das? Nicht für die maximal 150 Franken, die ich pro Spiel kassiere. Soll ich weiterpfeifen? Vorerst sicher nicht. War es richtig, auf eine Anzeige zu verzichten? Ja, zum Schutz der Familie.

Sein Verband ist in dieser Phase der Verarbeitung nicht untätig. Man bietet Schiri juristischen Support an, empfiehlt ihm sogar, Anzeige zu erstatten. Doch er lehnt ab. Ebenso die psychologische Unterstützung. Denn Schiri findet, er müsse die Geschichte selber verarbeiten, überwinden.

Allein einem Spieler die gelbe Karte zu zeigen, bereitet Schiri nach der Attacke Kopfzerbrechen.
Allein einem Spieler die gelbe Karte zu zeigen, bereitet Schiri nach der Attacke Kopfzerbrechen.Bild: Shutterstock

Nach Wochen ist die Leidenschaft grösser als die Bedenken. Schiri meldet sich zum Dienst zurück. Was das mit ihm macht, hätte er nie für möglich gehalten. Er steht zwar auf dem Platz, aber er ist nicht mehr der selbstsichere Typ, der er vorher war. Allein schon einen Spieler zu verwarnen, bereitet ihm Kopfzerbrechen, weil er im gleichen Moment an mögliche Konsequenzen denkt. «Ich war nicht frei im Kopf.»

Die Bedenken vor dem Wiedersehen mit dem Täter

Furcht blendet den Richter. Beim Schiedsrichter verhält sich das nicht anders. Doch mit der Zeit sind die Bilder der Attacke nur noch diffus, kehrt das Selbstbewusstsein zurück. Aber was, wenn ihm der Täter auf irgendeinem Fussballplatz begegnet? Kommt dann der Bodensatz des Grauens wieder hoch?

Es passiert tatsächlich. Aber Schiri ist selbst überrascht über seinen souveränen Auftritt, auch wenn einzelne Zuschauer versuchen, die Atmosphäre anzuheizen, den genannten Spieler gezielt anzustacheln.

Ach, die Zuschauer. Vor wenigen Wochen war es ein Vater eines Juniors, der den Schiedsrichter ins Gesicht schlug. Schiri findet, man sollte insbesondere bei Junioren-Spielen die Zuschauer in Zonen, möglichst hinter einem Zaun und mit etlichen Metern Abstand zum Spielfeld platzieren. Und bei den Aktiven solle man künftig wie im Profifussball nach negativen Ereignissen die fehlbaren Zuschauer aussperren. «Schliesslich kennen die Klubs ihre Pappenheimer. Spätestens, wenn sie vor der Wahl stehen, einen Sicherheitsdienst zu engagieren oder Besuchsverbot zu erteilen, werden sie sich für die zweite Variante entscheiden.»

Unter Schiedsrichtern diskutiert man über Streik

Obwohl die Attacke schon Jahre zurückliegt, ist Schiri besorgter denn je, weil aus seiner subjektiven Wahrnehmung die Gewalt gegen Schiedsrichter zugenommen hat. Die Lage ist derart angespannt, dass man in Schiedsrichter-Chats über mögliche Streiks diskutiert, um ein Zeichen zu setzen. Denn ein solches brauche es, meint Schiri. Nicht als Guerilla-Aktion, sondern in Absprache mit den Verbänden. «Und sollten wir gebüsst werden, bezahlen wir es halt aus dem eigenen Sack», sagt Schiri.

Nur, was kann verbessert werden? Eltern klarzumachen, ihr Sohn sei nicht Messi oder Ronaldo, der jedes Tor selber erzielen müsse, nie ausgewechselt und geschubst werden dürfe, ist zwecklos. Zielführend könnte sein, die Sicherheit der Schiedsrichter an die Heimteams zu delegieren. Schiri sagt: «In fast jedem Fall werden wir freundlich begrüsst, stehen Obst, Süsses und Getränke in der Garderobe. Doch kaum ist das Spiel vorbei, sind wir uns selbst überlassen.»

Würde man den Trainer und/oder den Captain der Gastgeber damit beauftragen, den Schiedsrichter bis zu seinem Auto zu begleiten, könnten etliche Attacken, auch jene, wie sie Schiri erlebt hat, verhindert werden.

Epilog: Quote ist höher als bei häuslicher Gewalt

Die Verbände sehen und hören es nicht gern, wenn Schiedsrichter, die physisch oder verbal attackiert worden sind, in der Öffentlichkeit reden. Sie befürchten einen Imageverlust für den Fussball, aber auch Schwierigkeiten bei der Rekrutierung. Wobei anzumerken gilt: Noch nie waren in der Schweiz so viele Schiedsrichter/innen (über 5200) tätig.

Selbst jene, die Opfer von Gewalt waren, sollen in der Öffentlichkeit bloss nicht als Opfer dargestellt werden. So sähen es die Verbände gerne. Was vermuten lässt, als wolle man etwas verschleiern. Als sei es nicht angebracht, dass ein Schiedsrichter Schwäche offenbart. Andererseits untergräbt man die Wichtigkeit des Schiedsrichters, indem man ihn in der Opferrolle marginalisiert. Passiert das Gleiche einem Spieler, kommt niemandem in den Sinn, ihn nicht als Opfer zu bezeichnen.

0,6 Prozent aller Schiedsrichterinnen und Schiedsrichter in der Schweiz wurden letztes Jahr Opfer von Gewalt.
0,6 Prozent aller Schiedsrichterinnen und Schiedsrichter in der Schweiz wurden letztes Jahr Opfer von Gewalt.Bild: Shutterstock

Auch hört man von Verbänden ständig die verharmlosende Aussage, wonach sich die Gewalt gegen Schiedsrichter im Promillebereich bewege. Das stimmt. In 89’741 Fussballmatches im Jahr 2024 kam es zu 34 Fällen von Gewalt gegen Schiedsrichter. Also in 0,03 Prozent der Spiele. Rechnet man anders, lautet das Resultat: 0,6 Prozent aller Schiedsrichterinnen und Schiedsrichter wurden letztes Jahr Opfer von Gewalt. Wobei in dieser Statistik nur Angriffe von Spielern und Funktionären, nicht solche von Zuschauern aufgeführt sind.

Zum Vergleich: In der Schweiz kam es im Jahr 2021 zu 19’341 Straftaten im häuslichen Bereich. Also in 0,48 Prozent aller Schweizer Haushalte. Gewiss ist auch hier die Dunkelziffer beträchtlich. Aber im Gegensatz zum Fussball anerkennen wir häusliche Gewalt als gesellschaftliches Problem.

Klar, die Erkenntnis allein reicht nicht. Die Idee mit der Begleitung der Schiedsrichter ist eine gute. Jene mit mehr Abstand zwischen Spielfeld und Spielereltern ebenfalls. Aber was auch hilfreich sein könnte, wäre ein Paradigmenwechsel in der Denkweise der Schiedsrichter. Warum nicht Schwäche eingestehen? Beispiel: Es ist mein fünftes Spiel, ich werde mein Bestes geben, aber auch Fehler machen.

Oder: Warum nicht vor dem Spiel den offenen Dialog mit den Protagonisten suchen? Beispiel: Ich bin allein, habe keine Videobilder, ich kann nicht alles sehen, aber ihr könnt mir dabei helfen, das Spiel ordentlich über die Bühne zu bringen. Denn klar ist: Wenn unsere Gefühle verrückt spielen, ist es wichtig, dass unser Verstand als Schiedsrichter mitspielt.

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24 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Raki
17.06.2025 07:14registriert Januar 2024
Ja, die Drohungen kennt man als Schiri und zwar in allen Ligen. Die Droher sind ja aber oft nicht die hellsten Kerzen. Wütende Drohanrufe und Beschimpfungen kenne ich. Aber wie im Artikel beschrieben sieht man sich immer mindestens zwei Mal. In meinem Fall war der Droher zu doof seine Nummer bei den wutentbrannten Anrufen zu unterdrücken und ich hab die Anrufe aufgezeichnet. Mit diesen zur Polizei und die Polizei gebeten doch einfach beim nä. Spiel dieser Mannschaft mitzukommen. Und prompt, der Droher war da und bekam wieder nen Wutanfall... und Zack, Polizei hinter ihm. Seither ist Ruhe.
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Katerchen
17.06.2025 07:18registriert März 2023
Gewalt hat im Sport nichts verloren!
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Dub_SF
17.06.2025 09:01registriert Mai 2020
Der Fisch stinkt vom Kopf: Solange im Profi-Fussball kein Respekt vor dem Schiedsrichter herrscht und jede Entscheidung von den Spielern kritisiert und diskutiert wird, kann man auch keinen Respekt in den Amateur-Ligen erwarten.
Schaut euch Eishockey an: dort werden die Entscheide respektiert, es wird nicht diskutiert und lamentiert und falls es trotzdem jemand macht, fliegt er auf die Strafbank.
Wenn man diese Kultur auch in den Fussball brächte, wäre es für den Schiri sowohl gegenüber Spieler wie auch Fans und Angehörige einfacher.
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