Slaven Bilic schnellte von seinem Sitz hoch, stieg auf den Tisch und jubelte. Es war der Abend, an dem Dimitri Payet gegen Albanien schon sein zweites EM-Tor für Frankreich erzielte und erneut zum «Man of the match» gewählt wurde. Bilic war zusammen mit Christian Karembeu und Ian Wright als Experte des britischen Fernsehsenders ITV im Studio gesessen, als ihn die Begeisterung übermannte und er zum Fan wurde. Die beiden Kollegen erhoben sich und applaudierten Bilic.
Nicht ganz zu Unrecht, obwohl es ja Payet gewesen war, der das Tor geschossen hatte und nicht Bilic. Doch ohne Bilic hätte Payet diesen Treffer wohl nicht erzielt, er wäre vielleicht gar nicht auf dem Platz gestanden, möglicherweise nicht einmal auf der Ersatzbank gewesen und eventuell elf Flugstunden entfernt in Saint-Philippe vor dem Bildschirm gesessen. «Bilic ist sehr wichtig für mich, er hat mir Vertrauen geschenkt und mich hierher gebracht», hatte Payet über seinen Trainer bei West Ham United gesagt.
Der 29-jährige Payet ist die Entdeckung der ersten EM-Woche. Vielen ist er erst auf dem Radar erschienen, nachdem er mit einem Schuss aus 18 Metern in den Torwinkel das Eröffnungsspiel gegen Rumänien für Les Bleus entschieden hatte. Es war ein solch prächtiges Tor gewesen, dass wie Bilic auch Thierry Henry kurzzeitig vergass, dass er als TV-Experte zum Analysieren und nicht zum Feiern auf der Tribüne sass, aufstand und sagte:«Selbst wenn die Rumänen alle drei Goalies ins Tor gestellt hätten, wären sie gegen dieses Werk der Präzision chancenlos gewesen.»
Seit seiner Rückkehr in die Equipe Tricolore ist Payet an neun der siebzehn Treffer direkt beteiligt gewesen. Hatten alle vor dem Turnier von Antoine Griezmann und Paul Pogba geschwärmt, so ist nun dieser Payet in aller Munde. «Hätte mir jemand vor ein paar Wochen ein solches Szenario geschildert, dann hätte ich ihn für krank erklärt», sagte Payet.
Verständlich. Seine bisherige Laufbahn im Nationalteam war ein ständiges Auf und Ab gewesen mit mehr Enttäuschungen als Erfolgserlebnissen. Nach seinem Debüt unter Laurent Blanc im Herbst 2010 hatte es ihm sowohl für die EM 2012 wie auch für die WM 2014 nicht ins Kader gereicht. «Auch diesmal war ich eigentlich weit weg», sagte Payet, der sich noch im Januar in einem Interview mit «L’Équipe» darüber beklagt hatte, wie ungerecht er vom Nationalcoach behandelt werde. Viele Monate lang verzichtete Didier Deschamps auf den Offensivspieler und liess ihn wissen, dass er mehr bringen müsse, um sich noch einmal eine Chance zu verdienen. «Payet hatte die EM eigentlich schon abgeschrieben», erzählte Bilic im Studio.
Doch im März belohnte Deschamps die überragenden Leistungen Payets in der Premier League. Unter Trainer Bilic war der Franzose schon nach wenigen Wochen der Publikumsliebling bei West Ham geworden, gekauft von Marseille für 15 Millionen Euro. Am Ende der Saison standen neun Tore und zwölf Assists in seiner Bilanz; und dies, obwohl er wegen einer Verletzung am Ende des letzten Jahres zwei Monate lang pausiert hatte.
Doch genau dies scheint nun sein grosser Vorteil zu sein. Während Griezmann nach 61 Pflichtspielen ausgebrannt wirkt, ist Payet nach nur 43 Einsätzen frisch und topfit. «Eigentlich sollte ich ihn jetzt einfrieren, damit ihm nichts passiert», hat Deschamps den Wert des 1,76 m grossen Flügels und Dribblers erkannt. Der vier seiner fünf Länderspieltore in den letzten fünf Partien geschossen hat.
Payets Sohn Noa, der älteste von drei Brüdern, weiss schon lange, was sein Vater kann. Als seine Mutter Ludivine dem Sender La1ere aus La Réunion ein Interview gab, fragte der Sechsjährige keck: «Kann ich bitte auch noch etwas sagen? Mein Vater schiesst die besten Freistösse der Welt!» Im vorletzten EM-Testspiel gegen Kamerun hatte Payet eine Kostprobe davon abgeliefert.
Bilic sagt: «Dimitri bringt alles mit, was man auf der Zehnerposition braucht. Aber er ist am besten, wenn er über den Flügel kommt und nach innen zieht.» Doch es ist nicht nur Bilic, der dafür gesorgt hat, dass Payet den Ruf des ewigen Talents endlich losgeworden und mit 29 Jahren explodiert ist. Vor ihm hatte der Argentinier Marcelo Bielsa bei Marseille Payet so geformt, dass dieser mit 21 Assists zum besten Passgeber der Ligue 1 wurde. «Bielsa hat aus mir einen reiferen Fussballer und einen reiferen Menschen gemacht», sagte Payet.
An Reife hatte es ihm in früheren Jahren verschiedentlich gefehlt. Einmal, da war er noch bei St-Étienne, wollte er auf dem Platz dem Teamkollegen Blaise Matuidi an den Kragen, als ihm dieser mangelnden Einsatz vorgeworfen hatte. Nach 31 Minuten war das Spiel für Payet vorbei gewesen. Frühere Trainer erzählen oft, wie undiszipliniert und bequem Payet gewesen sei. Eruptiv eben wie der Vulkan Piton de la Fournaise auf der Insel Réunion im Indischen Ozean. Dort war Payet aufgewachsen, bis er mit zwölf in die Akademie von Le Havre eintrat, nach vier nervigen Jahren mit viel Heimweh aber auf seine Insel zurückkehrte.
Dort holte er mit der AS Excelsior den Cupsieg − sein bisher einziger Titel − und spielte so gut, dass der Partnerklub Nantes vorstellig wurde und Payet erneut nach Frankreich lotste. Doch wieder gab es Probleme. Sein damaliger Trainer erzählt von zu wenig Einsatz und wie man dem Jüngling ein Ticket «La Réunion einfach» gegeben und ihm beschieden habe, er könne zurückkommen, wenn er nachgedacht habe.
Payet kam retour und fasste endlich Fuss. Nachdem er mit Nantes abgestiegen war, ging er nach Saint-Etienne. Sein damaliger Trainer Alain Perrin erinnert sich: «Er war ein typischer Réunionnais und es fehlte ihm die Professionalität.» Er wechselte zu Meister Lille, wo Rudi Garcia sein Chef war. Er sagt: «Dimitri ist einer der Spieler, die sagen können: ‹Gib mir den Ball, ich erledige den Rest.›» Bei Marseille stellte José Anigo dasselbe fest, was auch Bilic erkannt hat: «Payet braucht viel Zuneigung. Nur dann bringt er seine beste Leistung.»
So sehr sich Bilic auch über Payets EM-Performance freut, so sehr hat bereits das Zittern begonnen. Zwar wurde im Februar der Vertrag bis 2016 bei einem Salär von über acht Millionen Euro verlängert, doch was heisst das schon? Chelsea, Real Madrid, Barcelona und Manchester City wollen Payet aus dem Vertrag kaufen.
Der YB-Stürmer Guillaume Hoarau wurde von der Zeitung L’Équipe in den Heimatferien auf La Réunion aufgespürt. Er sagte: «Als Dimitri bei seiner Auswechslung vor Freude geweint hat, war auch ich gerührt. Er ist nun auf dem Zenit seines Könnens. Ich hoffe, was wir gesehen haben, war nur der Anfang.»