Blickt man in die jüngere Vergangenheit des Klubs, könnte man fast meinen, dass der FC Liverpool erst am Rande des Scheiterns sein muss, um die Champions League gewinnen zu können. In der Saison 2004/05 lagen die «Reds» im Final gegen Milan zur Halbzeit 0:3 in Rückstand und gewannen noch im Penaltyschiessen. 14 Jahre später drohte das Halbfinal-Aus nach einer 0:3-Niederlage in Barcelona – das Rückspiel an der Anfield Road endete 4:0 zugunsten der Gastgeber. Nun muss Liverpool dieses Kunststück erneut vollbringen, um die Chancen auf den Titel in der «Königsklasse» zu wahren.
Denn trotz einer schnellen 2:0-Führung unterlag das Team von Jürgen Klopp Real Madrid noch 2:5. Eine Wende scheint unwahrscheinlich, ist jedoch nicht unmöglich, wie die Vergangenheit gezeigt hat. Dazu braucht Liverpool aber von allen seinen Spielern eine nahezu perfekte Leistung. Eine Leistung wie jene beim 7:0-Sieg gegen Manchester United vor zehn Tagen. Einer der Akteure, auf die es ankommen wird, ist Darwin Nuñez.
Der uruguayische Stürmer kam im Sommer für eine Ablöse von 75 Millionen Euro von Benfica Lissabon. Da die Summe aufgrund von Bonuszahlungen noch um 25 Millionen Euro steigen könnte, dürfte er Virgil van Dijk bald als Rekordeinkauf der «Reds» ablösen. Er war gar teurer als Erling Haaland, der Manchester City dank einer Ausstiegsklausel nur 60 Millionen Euro kostete. Anders als der Norweger hatte Nuñez aber grosse Startschwierigkeiten.
Nur fünf Tore erzielte der 23-jährige Stürmer in der Hinrunde der Premier League. Dabei hatte er genügend Chancen, kein Spieler in der englischen Liga schiesst auf 90 Minuten gerechnet so häufig wie Nuñez. Auch bei den Schüssen aufs Tor ist er die Nummer 1. Doch während bei Haaland in der Hinrunde fast jeder dritte Schuss im Tor landete, war es bei Liverpools Nummer 27 gerade einmal jeder elfte. Zudem vergab niemand so viele Grosschancen wie Nuñez.
Schnell haftete ihm deshalb das Prädikat «Chancentod» an. In den sozialen Medien wurde er verhöhnt und auch er selbst wusste: «Ich spiele im Moment nicht gut.» Der 16-fache Nationalspieler weiss jedoch auch, dass er besser werden kann, wie er bei Sky im Februar verriet: «Man muss sich erstmal anpassen. Bei Benfica hatte ich auch eine schlechte erste Saison, im zweiten Jahr bin ich dann explodiert.»
Explodiert ist Nuñez in England zwar noch nicht, aber in den letzten Spielen war ein deutlicher Aufwärtstrend zu erkennen. Viermal traf er in den letzten fünf Partien, darunter ein Doppelpack gegen Manchester United und ein Absatztor im Hinspiel gegen Real Madrid. Damit hat er in den letzten vier Champions-League-Spielen immer getroffen.
Plötzlich nutzt Nuñez die Chancen, die er bekommt. Mittlerweile hat ihn Haaland bei der Anzahl vergebener Grosschancen überholt. Vielleicht hat Nuñez dabei auch ein Tipp von Jürgen Klopp geholfen. «Er hat mir geraten, geduldiger zu sein. Wenn ich überhastet schiesse, wird es nicht gut gehen.» Trotz der Verständnisprobleme – Klopp spricht kein Spanisch, Nuñez noch kein Englisch – ist der gegenseitige Respekt gross. Der Deutsche habe ihm stets Vertrauen gegeben und ihn jeweils aufgebaut. Ausserdem kennt Klopp die Stärken des Stürmers genau: «Er weiss, dass ich schnell bin und Räume nutzen kann. Das fordert er auch von mir – und dass ich Tore schiesse.»
Neben Klopp wird Nuñez auch von Luis Suárez, mit dem er in regem Kontakt steht, unterstützt. Sein uruguayischer Landsmann spielte zwischen 2011 und 2014 dreieinhalb Saisons bei Liverpool. Nuñez bezeichnet den 36-Jährigen als Idol: «Er gibt mir viele Ratschläge, und das hilft mir sehr. Er ist ein grossartiges Vorbild.» Wie der jetzige Liverpool-Stürmer hatte auch Suárez zunächst Probleme, sich in der Premier League zurechtzufinden, traf in seiner zweiten und dritten vollständigen Saison aber 23 und 31 Mal in je 33 Ligapartien.
Auf eine ähnliche Entwicklung hofft auch sein Nachfolger, der sich aufgrund seiner Einsatzbereitschaft und seiner Arbeitsmoral immer mehr zum Fan-Liebling entwickelt. So sieht Nuñez es auch als Motivation, wenn er mal auf der Bank sitzt: «Man darf wütend werden, aber man muss wütend auf sich selbst sein und sich vornehmen, am nächsten Tag doppelt so hart zu trainieren.» Auch deshalb lobt Klopp die Mentalität von Nuñez und sagt: «Ich bin sehr glücklich über seine Entwicklung.»
Wie der Stürmer mit Rückschlägen umgeht, wird heute Abend (21 Uhr) erneut zu sehen sein. Auch er konnte die enttäuschende Niederlage beim Tabellenletzten Bournemouth vom Wochenende nicht verhindern. Es war eine weitere Episode in der Achterbahnfahrt, welcher die Saison des FC Liverpool nahekommt. «Es ist sehr, sehr frustrierend», gestand Klopp danach. «Wir müssen nun schauen, wie schwer unsere Wunden sind, und dann weitermachen.»
Nur mit einem deutlichen Erfolg in Madrid kann sein Team eine Titelchance wahren. In den Cup-Wettbewerben ist Liverpool ausgeschieden, in der Liga beträgt der Rückstand auf Arsenal 24 Punkte. Fliegen die «Reds» auch aus der Champions League raus, ist es endgültig eine Saison zum Abhaken. Dann gilt es, den Umbruch fortzuführen und weiter an einer schlagfertigen Truppe zu basteln, mit der Klopp wieder alle Titel gewinnen kann. Dazu soll neben Cody Gakpo und Harvey Elliott auch Darwin Nuñez gehören, der – so hoffen sie in Liverpool – kurz vor der Explosion steht.
KommissarSpastens